„Wo es mir gut geht, ist meine Heimat“

Die deutsch-türkische Publizistin Seyran Ateş plädiert dafür, auch Menschen mit Migrationsgeschichte als Einheimische anzunehmen

„Man kann zu einem Land nicht nur Gefühle entwickeln, weil es die Heimat ist, in der man geboren wurde“, schreibt Seyran Ateş in ihrem neuen Buch Wahlheimat. „Sondern auch, weil es die Heimat ist, für die man sich wegen ihrer Verfassung entschieden hat.“ Was die Rechtsanwältin türkischer Abstammung an ihrer Wahlheimat Deutschland liebt, was sie kritisiert und was sie sich wünscht, darüber sprach sie mit Ulrike Schnellbach. 

Seyran Ateş und Türkan Karakurt
Zwei, die längst angekommen sind in „Almanya“ (Filmplakat): die Publizistin Seyran Ateş (links) und Türkan Karakurt von der Friedrich-Ebert-Stiftung, auf deren Einladung Ateş kürzlich in Freiburg sprach. Beide wurden vor 50 Jahren in Istanbul geboren und leben seit ihrer Kindheit in Deutschland. Sie lernten sich vor Jahren bei einer Veranstaltung in Paris kennen. – Foto: Ulrike Schnellbach

Frau Ateş, lieben Sie Deutschland?

Seyran Ateş: Ich liebe Deutschland sogar sehr! Die Formulierung im Untertitel meines Buches: „Warum ich Deutschland lieben möchte“ darf ruhig ein wenig irritieren. Denn ich erlebe, dass sehr viele Menschen, die schon lange in Deutschland leben, ob als Migranten oder Ureinwohner, damit nicht viel anfangen können, wenn ich sage: „Ich liebe Deutschland“. Das „möchten“ ist so etwas wie eine Bitte um Erlaubnis: Ich möchte, dass man es mir gönnt, Deutschland zu lieben.

Was lieben Sie an Deutschland?

Seyran Ateş: Deutschland hat mir sehr viel Freiheit gegeben. Es ist ein Land, in dem ich Demokratie, aber auch kritisches Denken und Streiten gelernt habe. Ein Land, das es mir erlaubt, gegen viele Dinge zu sein, die der Staat macht, aber gleichzeitig auch mit dem Staat zu sein, der einen  schützt, wenn man Meinungsfreiheit lebt. All das bietet dieses Land, und deshalb ist das Buch letztendlich eine Liebeserklärung.

Was bedeutet Heimat für Sie?

Seyran Ateş: Für mich hat Heimat nicht nur mit der Familie zu tun, sondern auch viel mit eigenem, selbstbestimmtem Leben. Da wo es mir gut geht und ich mich wohl fühle, da bin ich beheimatet.

Hierzulande spricht man von Einheimischen und Zugewanderten. Was halten Sie von der Unterscheidung?

Seyran Ateş: Die finde ich sehr, sehr schwierig, denn ich lebe seit 44 Jahren in Berlin und habe nur sechs Jahre in Istanbul gelebt. Dass man unsereins weiterhin als Zugereiste, als Menschen mit Migrationshintergrund bezeichnet, finde ich außerordentlich problematisch. Das Buch habe ich geschrieben als Plädoyer für den Verfassungspatriotismus, der eine Chance bietet, dass wir ein „Wir“ leben können. Damit man uns nicht mehr ausgrenzt als Zugewanderte, sondern akzeptiert als Einheimische. Ich bin mit der Geschichte und Gegenwart dieses Landes verbunden und interessiert an seiner Zukunft. Das macht mich zu einer Einheimischen, zu einer, die sich interessiert für diesen Staat und als Bürgerin aktiv ist und sein will. Insofern fühle ich mich abgelehnt, wenn man mich nicht als Einheimische wahrnimmt.

Sie kritisieren Menschen, die hier leben und das Land nicht anerkennen oder lieben wollen.

Seyran Ateş: Ja, sogar das Land hassen! Es gibt Leute, die hier leben und gegen unseren Staat, gegen die Demokratie kämpfen. Und da sage ich mit Dolf Sternberger (dem Politologen, der den Begriff des Verfassungspatriotismus prägte, Anm. d. Red.): „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit. Keine Demokratie den Feinden der Demokratie!“

Sind diese Menschen nach Ihrer Definition auch Einheimische?

Seyran Ateş: Ja. Darunter gibt es ja auch Urdeutsche, die aus einer rechten Gesinnung heraus den Staat und die Freiheit bekämpfen. Da sehe ich keinen Unterschied zu Zugewanderten, die den Staat ablehnen.

Wie gut funktioniert aus Ihrer Sicht das Zusammenleben von Deutsch- und Türkeistämmigen?

Seyran Ateş: Da wo Türkeistämmige und Urdeutsche zusammentreffen, da erleben wir verschiedene Abstufungen des Ertragens oder des Wohlwollens, der Sympathie und Empathie füreinander. Sehr viele Deutsche begeistern sich inzwischen auch für die multikulturelle Gesellschaft, sie sind von der Globalisierung genauso angesteckt, sie lernen Sprachen und reisen viel. Gleichzeitig sehen wir – vor allem da, wo Ureinwohner und Einwanderer nicht oder kaum aufeinander treffen – auch Fremdenfeindlichkeit und Hass aus Angst vor Überfremdung oder aufgrund einzelner negativer Erfahrungen. Unter dem Strich sehe ich aber eine positive Entwicklung in der multikulturellen Gesellschaft, die wir ja nun mal sind: Das Zusammenleben gestaltet sich mit vielen Höhen und Tiefen, aber immer besser.

Mittlerweile gilt Deutschland offiziell als Einwanderungsland, was lange geleugnet wurde. Sind Sie mit der Politik in dieser Hinsicht zufrieden?

Seyran Ateş: Da möchte ich widersprechen. Es gibt zwar Lippenbekenntnisse vieler Politiker, dass wir de facto ein Einwanderungsland sind. Aber als Juristin sage ich: Dann müssten wir auch die entsprechenden Einwanderungsgesetze haben – und die haben wir nicht.

Aber wir haben doch seit 2005 das Zuwanderungsgesetz.

Seyran Ateş: Damit wird Zuwanderung gesteuert, aber nur derjenigen Menschen, die wir hereinlassen müssen, wie Familienangehörige und Flüchtlinge. Wir haben damit nicht entschieden, dass wir die Türen öffnen für Menschen, die wir nach bestimmten Kriterien hereinlassen wollen, so wie klassische Einwanderungsländer das tun.

Zeitweise hatten Sie wegen Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen Ihre Anwaltskanzlei geschlossen und sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Was ist der Grund dafür, dass Sie sich wieder zu Wort melden? Hat die Bedrohungslage nachgelassen oder fällt Ihnen das Schweigen zu schwer?

Seyran Ateş: Beides. Mit dem Arabischen Frühling hat sich vieles verändert in der Welt. Ich stehe mit den Themen, wegen derer ich aggressiv angegangen wurde – Zwangsheirat, Ehrenmorde, Sexualität im Islam –, bei weitem nicht mehr allein. Es kommen immer mehr Menschen nach, die über diese Themen reden und schreiben, so dass ich da kein Alleinstellungsmerkmal mehr habe und dadurch auch nicht mehr so bedroht bin. Und was das Schweigen anbelangt: Das hatte ich mir vor allem auferlegt, um meine Tochter zu schützen. Aber es fällt mir so schwer, dass ich mir auch die Frage stelle, was meine Tochter dazu sagen wird, wenn sie 20 oder 25 ist und erfährt, was ich aufgegeben habe – nämlich das, was ich bin! Ich kann einfach nicht wegschauen, wenn Menschenrechte verletzt werden, wenn Frauen unterdrückt werden, wenn sie selbstbestimmt und menschenwürdig leben wollen. Dafür habe ich Jura studiert, dass ich diesen Menschen helfe.

Dass das nicht allen Männern gefällt, leuchtet ein. Aber Sie ecken auch bei Frauen an mit Ihren Meinungen.

Seyran Ateş: Wundert Sie das? Denken Sie zurück an den Kampf für das Frauenwahlrecht. Auch damals gab es Frauen, die sich dagegen aussprachen. Wenn wir heute gegen das Kopftuch kämpfen, dann stoßen wir auf Frauen, die für das Kopftuch kämpfen. Sie kämpfen für eine Geschlechterapartheid – dafür, dass wir akzeptieren sollen, dass Frauen und Männer zwar gleichwertig sind vor Gott, aber nicht gleichberechtigt in der Gesellschaft und in der Politik. Sie sind gefangen in einem althergebrachten Wertesystem, das die Moscheegemeinde ihnen vorgibt. Dagegen kämpfe ich. Wenn ein Mädchen mit acht Jahren gezwungen wird, das Kopftuch zu tragen, dann wird es sich mit 20 ohne Kopftuch nackt fühlen, das ist logisch. Aber das ist nicht Ausdruck ihres freien Willens.  

Sie spitzen gerne zu und spielen damit zuweilen den falschen Leuten in die Hände, indem Sie ausländerfeindliche Vorurteile bekräftigen. Wenn Sie beispielsweise sagen, viele muslimische Mädchen seien „Sklavinnen auf dem muslimischen Heiratsmarkt“, könnte das auch von Populisten wie Thilo Sarrazin stammen.

Seyran Ateş: Dieses Argument höre ich, seit ich den Mund aufgemacht habe und Missstände in der türkischen und kurdischen Parallelgesellschaft anprangere. Nun muss man zum einen die Dinge manchmal überspitzt formulieren, damit sie ankommen. Zum anderen ist an diesen Aussagen viel Wahres. Dass fremdenfeindlich gesinnte Menschen das für sich verwenden, können wir nicht verhindern. Aber der Leser oder der Zuhörer sollte darüber nachdenken, welche Motivation ich habe dafür, so etwas zu sagen, und welche Motivation Herr Sarrazin oder irgendein Nazi hat, wenn er dasselbe sagt. Wir Frauenrechtlerinnen benennen Missstände doch mit einer ganz anderen Intention: Ich wünsche mir ein selbstbestimmtes Leben für diese Mädchen, während rechtsgesinnte Leute sich wünschen, dass sie hier gar nicht mehr leben und alle abgeschoben werden.

 

Seyran Ateş

wurde 1963 in Istanbul geboren, wo sie ihre ersten sechs Lebensjahre verbrachte. Dann zog sie zu ihren Eltern und vier Geschwistern nach Berlin. Doch sie lehnte sich gegen die überkommene Rollenverteilung auf und lief mit 17 von zuhause weg, weil sie, wie sie schreibt, ihre „traditionelle, strenge und ungebildete Familie, die ich sehr liebte und sehr hasste, nicht mehr ertragen konnte“. Sie studierte Jura und arbeitete in einem Beratungszentrum für muslimische Frauen. Dort wurde sie mit 21 Jahren von einem Attentäter angeschossen, ihre Klientin wurde getötet.
Als Rechtsanwältin sprach und schrieb Ateş über Themen wie Zwangsheirat, Ehrenmorde und Sexualität im Islam und erhielt immer wieder Morddrohungen. Um sich und ihre damals vierjährige Tochter zu schützen, schloss sie 2009 ihre Anwaltskanzlei und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Seit vergangenem Jahr praktiziert und publiziert die streitbare Frauenrechtlerin wieder. Seyran Ateş lebt in Berlin und besitzt ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit.

Seyran Ateş: Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte
Ullstein Verlag, Berlin 2013

 

Erschienen in der Badischen Zeitung am 6. Mai 2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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