Wir müssen reden

Deutsche und Türkeistämmige erzählen einander aus ihrem Leben. Klingt banal, steckt aber voller Überraschungen. Und am Ende steht eine uralte Erkenntnis

von Ulrike Schnellbach

Der Initiator der Biografiegespräche: Gutsherr Axel Schmidt-Gödelitz
Der Initiator der Biografiegespräche: Gutsherr Axel Schmidt-Gödelitz.
Foto: Natasha Allner

Enver* erzählt. Zuerst flott und flüssig, dann stockend, schließlich mit erstickender Stimme. Hier, Enver, ein Taschentuch. Ein Dutzend Frauen und Männer im Stuhlkreis, ganz still. Ein vorsichtiger Blick in die Runde verrät: Auch die anderen kämpfen mit den Tränen. Manche kämpfen nicht, sie weinen leise mit Enver, diesem kräftigen Mann mit der sonst so festen Stimme. Ein Spaßvogel, selbstbewusst, einer, der seinen Weg geht: So hatte ich den 35-jährigen Werbetexter aus Hamburg am Vorabend eingeschätzt. Wie man eben die Menschen so kategorisiert, wenn man einen Abend redend und scherzend am Kamin verbringt, zusammen isst und trinkt, bis es spät ist.

Jetzt sehe ich Enver mit anderen Augen. Er hat erzählt, wie seine Familie sich im Deutschland der 1980er-Jahre durchschlug. Vom Vater, der zuerst alleine aus der Türkei kam und sich hier eine Freundin suchte gegen die Einsamkeit. Wie das andauernde Verhältnis die Familie belastete, als die Mutter mit den Kindern nachgekommen war. Zu siebt lebten sie in einer Zweizimmerwohnung, wo die Kinder im Wohnzimmer auf dem Fußboden ihre Hausaufgaben erledigten und abends die Matten zum Schlafen ausrollten. Enver hat vom Liebesentzug durch den Vater berichtet, unter dem er seine Kindheit lang litt. Davon, dass der Vater es als mangelnden Respekt auffasste, wenn der Sohn mit übereinander geschlagenen Beinen dasaß. Wie bitte? Ja, so war das, das machte man nicht. Man legte sich auch nicht aufs Sofa, wenn der Vater im Raum war.

Als Enver endet, fragt Sümer*, der 47-jährige Ingenieur vom Bodensee, vorsichtig: „Darf ich als türkischer Mann dich in den Arm nehmen?“ Sie umarmen sich unbeholfen, klopfen einander auf die Schultern, wie Männer das tun, wenn sie ihre Rührung verbergen wollen. Dann halten sie inne, klammern sich aneinander, bleiben lange so stehen, weinen zusammen.

Der magische Moment

Ich staune. Über diese beiden gestandenen türkisch-deutschen Männer; über Enver und wie aus ihm trotz alledem dieser zugewandte, sympathische Typ werden konnte; und darüber, wie ahnungslos ich bin. Bevor ich zu diesem Treffen auf das sächsische Gut Gödelitz kam, hatte ich geglaubt, etwas zu verstehen von der Thematik, um die es in dem deutsch-türkischen Biografie-Projekt geht. Schließlich beschäftige ich mich als Journalistin seit Jahren mit Integrationsfragen. Privat komme ich dagegen kaum mit Menschen aus der Türkei in Kontakt. Das ist symptomatisch: Drei Millionen Türkeistämmige leben hier mit uns, zum Teil seit einem halben Jahrhundert. Viele haben noch nie die Wohnung ihrer deutschen Nachbarn betreten – und umgekehrt. Bestenfalls ein friedliches Nebeneinander hat sich etabliert, von echtem Miteinander keine Rede.

Diese ernüchternde Diagnose stand am Anfang der Biografiegespräche, die Axel Schmidt-Gödelitz im Jahr 2009 ins Leben rief. Das Konzept ist denkbar einfach und löst womöglich gerade deshalb so viel aus: Je fünf Deutsche und Deutsch-Türken verbringen ein Wochenende gemeinsam, um einander ihr Leben zu erzählen. Jeder hat eine halbe Stunde Zeit. Anschließend können die anderen nachfragen, aber es wird nicht bewertet, nicht diskutiert. Es geht nur darum zu verstehen. Am Ende schließen alle für einige Minuten die Augen und lassen das Gehörte Revue passieren. Spätestens in diesem magischen Moment habe ich Enver mit seiner Geschichte in mein Herz geschlossen. So wie nach und nach all die anderen in unserer Runde.

Ein Wochenende lang nur zuhören, das scheint zunächst recht eintönig. Tatsächlich ist es aber richtig aufregend. Nicht nur die türkischen Biografien stecken voller Überraschungen, auch die deutschen. Niemand hätte zum Beispiel geahnt, mit welcher dramatischen Geschichte die freundliche Gemeinderätin Gerlinde aus dem Oberschwäbischen, um die 60 und gehbehindert, aufwarten würde:
Nach 40 Jahren der Sehnsucht hat sie unlängst ihre Jugendliebe aus Nigeria wiedergefunden und endlich geheiratet. Heiraten – ein zentrales Lebensthema vor allem in der türkischen Community, wie in fast allen Erzählungen deutlich wird. „Bei uns gilt: verheiratet gleich glücklich, unverheiratet gleich unglücklich“, erklärt die 35-jährige Filiz* aus Stuttgart. Nicht so bei ihr: Die lebhafte, hübsche Frau mit den langen offenen Haaren ist berufstätig, in ihrer muslimischen Gemeinde engagiert und – ledig. „Mir ist es ein Anliegen zu zeigen, dass es kein Entweder-Oder gibt“, sagt sie, „und dass Glück nicht nur davon abhängt, ob man verheiratet ist.“

Das sächsische Gut Gödelitz nahe Riesa bei Dresden.
Wo alles seinen Anfang nahm: Das sächsische Gut Gödelitz nahe Riesa bei Dresden.
Foto: Martin Klindtworth

Mit jeder Geschichte wächst die Neugier

Es werden auch Parallelen offenbar. Wie bei Hildegard und Ali. Als Ali berichtet, wie er als junger Mann seiner Mutter ins fremde Deutschland folgte, fühlt sich Hildegard an ihre eigene Jugend erinnert: wie sie ihrer engen Heimatstadt entfloh und sich in der Metropole Istanbul zunächst ziemlich unbeholfen fühlte. Als Ali dann noch den Flaschnereibetrieb seines Vaters erwähnt, muss Hildegard schmunzeln; ihr Großvater war auch Flaschner. Kleine Entdeckungen am Rande. Mit jeder Geschichte wächst die Neugier, und es wächst das Verständnis. So erzählen nicht nur türkische Teilnehmer wie Enver von strengen Vätern, die keine Emotionen zuließen. Auch Deutsche, die in der Nachkriegszeit aufwuchsen, litten oft unter unnahbaren Eltern.

Aufregend ist es auch, wenn man selbst an die Reihe kommt. Eine halbe Stunde ist ganz schön lang. Als ich alles erzählt habe, was ich in diesem Zusammenhang für erwähnenswert halte, sind gerade mal 15 Minuten vergangen. Jetzt heißt es Improvisieren, und da bahnen sich Erinnerungen ihren Weg ins Bewusstsein, die lange verschüttet waren. Wie die an meinen türkischen Schulfreund. Orhan war richtig gut in der Grundschule. Aber er kam nicht mit ins Gymnasium, weil die Lehrerin ihm das nicht zutraute. Was wohl aus ihm geworden ist?

Enver hat vor allem über seinen Vater gesprochen, das fiel auf. Beim Erzählen wird mir dann klar, wie sehr auch ich durch meinen Vater geprägt bin: durch seine internationale Biografie und die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, die er uns Kinder gelehrt hat. Als Deutscher in den USA aufgewachsen, machte er später sein Abitur in der Türkei. Zeitlebens ist er gereist, was das Zeug hält, auch mit uns. Als ich 13 war, fuhren wir zum Klassentreffen nach Istanbul: eine Woche Feiern mit türkischen Familien, eine Erfahrung fürs Leben. Vor zwei Jahren bin ich mit meinem Mann, unseren Kindern und meinem Vater noch einmal in Istanbul gewesen, damit er den Enkeln die Stadt seiner Jugend zeigen konnte.

Monate später – noch eine Überraschung

Noch spät am Abend in meinem stillen Zimmer denke ich über meine Familie nach. Und über Enver und Sümer, Gerlinde und Filiz. Am nächsten Tag verlasse ich Gut Gödelitz mit der Erkenntnis des Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Solange man die Lebensgeschichten der anderen nicht kennt, hat man nichts als Klischees im Kopf.

Einige Monate später spreche ich noch einmal mit Enver. Und wieder eine Überraschung: Vieles von dem, sagt Enver, was er auf Gut Gödelitz von sich preisgegeben hat, habe er dort zum ersten Mal überhaupt in Worte gefasst. Das habe enorm nachgewirkt: „Seither spreche ich auch in meinem privaten Umfeld viel offener über mich, auch über Misserfolge oder falsche Entscheidungen.“ Dabei sei ihm aufgefallen: „Je mehr ich anderen von mir erzähle, desto mehr erfahre ich auch von ihnen. Ich erlebe eine neue Verbindlichkeit.“

Ich stelle fest: Auch so ein intensives Biografiegespräch vermittelt nur eine Ahnung von den anderen. Es ist eine Lektion in Demut. Und macht auf jeden Fall Lust auf mehr.

* Namen geändert

Deutsch-türkische Biografiegespräche

Die Biografiegespräche sind ein Projekt des Ost-West-Forums Gut Gödelitz. Auf dem idyllischen Landsitz bei Dresden hatte Hausherr Axel Schmidt-Gödelitz seit 1990 Gesprächsrunden zwischen Ost-  und Westdeutschen organisiert. Nach diesem Vorbild rief er später die deutsch-türkischen Biografiegespräche ins Leben, die sich mittlerweile in 17 Städten zwischen Hamburg und Konstanz, Köln und Berlin etabliert haben. Dabei verbringen je fünf Deutsche und Türkeistämmige gemeinsam ein Wochenende und erzählen einander unter Anleitung eines deutsch-türkischen Moderatorenpaares ihr Leben. Eingeladen sind vor allem Menschen, die das Erlebte in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld als Multiplikatoren weitergeben können. Das können Studierende sein oder Sozialarbeiter, Richterinnen oder Polizisten, Lehrer oder Mitarbeiterinnen eines städtischen Amtes. Die Moderatoren achten darauf, dass die Gruppen möglichst bunt gemischt sind. Die türkischstämmigen Teilnehmer müssen sehr gut Deutsch sprechen. Wer einmal dabei war, wird fortan zu regelmäßigen Treffen aller Teilnehmer/innen aus derselben Stadt eingeladen. So entstehen wachsende regionale Netzwerke der Verständigung. Die Gespräche werden von Stiftungen, Kommunen und Sponsoren finanziert.

Mehr Informationen unter www.ost-west-forum.de

 

Erschienen in Publik-Forum 22/2014

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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