Wir könnten auch anders

Von Ulrike Schnellbach

Innenminister Horst Seehofer verkauft die sinkenden Flüchtlingszahlen in Deutschland als Erfolg. Viele Kommentatoren teilen seine Erleichterung über das vermeintliche Ende der vermeintlichen Flüchtlingskrise. Es klingt wie ein kollektiver Stoßseufzer.

Man kann auch ganz anders auf die Entwicklung schauen. Ein anderer Innenminister (oder eine Ministerin) könnte vor die Öffentlichkeit treten und die aktuellen Zahlen so kommentieren:

Liebe Landsleute, ich habe heute keine guten Nachrichten: Im vergangenen Jahr haben wir leider nur 162.000 Menschen aufgenommen, die aus Krieg und Not in ihren Ländern fliehen mussten. Das sind noch weniger als 2017 und weit weniger als in den besten Jahren 2015 und 2016. Sie erinnern sich: Bis 2015 hatten wir die Staaten an den europäischen Außengrenzen weitgehend im Stich gelassen mit der Aufgabe, die übers Mittelmeer Geflüchteten zu versorgen. Dann begannen wir endlich, unserer Verantwortung als eines der reichsten Länder der Welt gerecht zu werden, indem wir das Prinzip der Humanität über die formalen Kriterien der Zuständigkeit stellten. Viele von Ihnen haben die neue Willkommenskultur begrüßt und tragen bis heute dazu bei, dass uns die Integration der Neuankömmlinge weitgehend gelingt. Ich weiß, dass einige von Ihnen auch Vorbehalte und Sorgen haben. Und es stimmt ja: Eine relativ große Zahl an Menschen aufzunehmen und in die Gesellschaft einzugliedern ist kein Kinderspiel. Aber wer sollte das bewerkstelligen, wenn nicht wir? Wir haben die Mittel und wir brauchen Zuwanderer, denn unsere Wirtschaft floriert und unsere Gesellschaft altert. Vor allem aber gebietet es die Mitmenschlichkeit, dass wir Solidarität üben.

Lassen Sie mich also in aller Deutlichkeit sagen: Ich bin über den Rückgang der Zuwanderungszahlen alles andere als erleichtert, vielmehr bin ich beschämt. Denn heute sind mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Damals mussten wir übrigens innerhalb kürzester Zeit zwölf Millionen Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten aufnehmen, in einem zerstörten Land – und das haben wir geschafft!

68 Millionen Vertriebene weltweit: Das sind so viele, wie Frankreich Einwohner hat. 162.000 davon – das entspricht der Einwohnerzahl von Osnabrück – haben es 2018 zu uns geschafft. Sie kamen aus Ländern wie Syrien, Irak und Afghanistan, wo Krieg und Terror herrschen. Aus Ländern wie Iran, wo Regimegegner, Frauen und Homosexuelle unterdrückt werden, oder wie Nigeria, wo Mädchen versklavt und Jungen als Kindersoldaten missbraucht werden. Viele kamen auch aus Gegenden, in denen sich der vor allem von reichen Ländern verursachte Klimawandel besonders katastrophal auswirkt und den Menschen die Lebensgrundlage entzieht.

Dabei haben Millionen Notleidende nicht einmal die Möglichkeit zu fliehen. Denken Sie an den Jemen. Oder an Nordkorea. Von vielen Migrationsbewegungen bleibt Europa außerdem unberührt, etwa von den Rohingya, die sich aus Myanmar nach Bangladesch flüchten, den Venezolanern, die in Kolumbien und Ecuador Aufnahme finden, oder den Somalis, die im weltgrößten Flüchtlingslager Dadaab in Kenia unterkommen. Die meisten, die sich den Weg nach Europa zutrauen, werden unterwegs abgefangen. Sie vegetieren in KZ-ähnlichen Lagern in Libyen oder stecken an der syrisch-türkischen Grenze fest. Sie frieren in überfüllten Zeltstädten auf Samos oder Lesbos. Oder sie ertrinken im Mittelmeer: 2275 waren es nach Schätzungen des UN-Flüchtlingswerks 2018, 185 bereits in diesem Jahr, Stand 21. Januar. In der Europäischen Union nennen wir das „Grenzschutz“.

Diese zynische Abschottungspolitik kostet nicht nur Menschenleben, sie widerspricht auch unseren christlichen Werten und raubt uns unsere Würde. Deshalb verspreche ich Ihnen hier und heute: Deutschland wird sich nicht weiter wegducken. Die Bundesregierung arbeitet stattdessen mit Hochdruck daran, unsere Aufnahme- und Integrationskapazitäten zu erweitern. Wir tun alles dafür, die Bereitschaft in der Bevölkerung zu stärken, Menschen in Not zu helfen: Es wird mehr bezahlbare Wohnungen geben und mehr Unterstützung für Firmen bei der Eingliederung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es werden mehr Erzieher, Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Traumatherapeutinnen eingestellt. Und wir unternehmen alle Anstrengungen, um Kriminalität vorzubeugen – gleich von wem sie droht.

Gemeinsam mit unseren französischen, spanischen und griechischen Partnern haben wir mit sofortiger Wirkung beschlossen, die Seenotrettung im Mittelmeer wieder aufzunehmen und deutlich zu intensivieren. Die EU stellt die Zusammenarbeit mit der mafiaähnlichen libyschen „Küstenwache“ ein, die Flüchtlingsboote aufbringt und die Menschen zurück in die Lager schleppt. Vor allem aber beginnen wir endlich, wirklich Fluchtursachen zu bekämpfen: durch faire Handelsbeziehungen mit den Ländern des globalen Südens; durch Entwicklungshilfe, die den Namen verdient; durch wirksamen Klimaschutz; durch den Stopp von Rüstungsexporten und durch Krisenprävention und zivile Konfliktschlichtung weltweit. Mit despotischen, korrupten Herrschern werden wir nicht mehr zusammenarbeiten.

Es ist uns bewusst, dass dies eine politische und wirtschaftliche Kehrtwende bedeutet, die allergrößten Einsatz erfordert. Das ist es uns wert. Denn wir wollen andere Zahlen: Wir wollen, dass weniger Menschen durch Kriege, Umweltkatastrophen, Hunger oder Perspektivlosigkeit in die Flucht getriebenen werden. Und wir wollen, dass mehr von denen, die ihre Heimat trotzdem verlassen müssen, Schutz in Europa, in Deutschland erhalten. Es ist richtig: Wir können nicht alle Hilfsbedürftigen dieser Welt retten. Aber wir können wenigstens unseren eigenen Anteil an den Fluchtursachen dauerhaft verringern. Das Mindeste, was wir unterdessen bieten müssen, ist eine humane, großzügige Flüchtlingsaufnahme.
Denn wir können in diesem reichen, sicheren, wohltemperierten Land nur ruhig schlafen und morgens in den Spiegel schauen, wenn wir unseren Wohlstand mit so vielen Menschen wie möglich teilen. Wir können mehr helfen. Und wir wollen mehr helfen.

     

Erschienen auf Publik-Forum.de, 26.1.2019

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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