Wie im Gefängnis

Eine Million Menschen leben ohne Papiere in Deutschland, ohne Rechte und in ständiger Angst. Einer von ihnen erzählt.

Er ist 33 Jahre alt, Kurde aus der Türkei. Seit zehn Jahren lebt er in Deutschland, vor sechs Jahren wurde sein Asylantrag abgelehnt, seitdem ist er untergetaucht, lebt bei Freunden mal hier, mal dort. Ein „Illegaler“. Schwarze Jacke, schwarzes T-Shirt mit dem Konterfei Che Guevaras, schwarze Perlenkette. Große graugrüne Augen unter dunklen Brauen, die steil nach unten zeigende Linien ins Gesicht zeichnen. Zweimal wurde er bereits  verhaftet, er lebt mit der Angst vor dem nächsten Mal. Eine Perspektive sieht er nicht. Obwohl er Deutsch spricht, erzählt er seine Geschichte auf Türkisch mit Hilfe einer Dolmetscherin. „Da kann ich mich besser ausdrücken“, sagt er. Wenn er seine Situation beschreibt, spricht er in der zweiten Person. Als wollte er sagen: Stell du dir mal vor, wie es ist, so zu leben.

Protokoll von Ulrike Schnellbach

„Ich bin 1996 aus der Türkei geflohen wegen meiner politischen Aktivitäten. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Nur, dass ich nicht gekommen bin, um in Deutschland ein schönes Leben zu haben. Mein Asylantrag wurde im Jahr 2000 abgelehnt. Das war eine komische Entscheidung der deutschen Behörden: Gleichzeitig wurde der Antrag eines Kumpels angenommen. Der hatte fast dieselbe Geschichte wie ich. Auch mein Bruder erhielt Asyl, auch er hat eine ähnliche Geschichte. Bei meinem Asylverfahren hatte ich das Gefühl, verurteilt zu werden.

Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich in die Türkei zurückginge. Wahrscheinlich würde ich verhaftet wegen Mitgliedschaft in einer kurdischen Organisation. In den deutschen Medien steht, dass sich die Situation für Kurden in der Türkei verbessert hat. Aber das stimmt nicht. Wenn jemand eine Parole ruft, kommt er ins Gefängnis. Man darf nicht einmal „Herr Öcalan“ sagen, nur „Öcalan“.

Natürlich möchte ich meine Kinder wieder sehen. Sie sind jetzt 11 und 13 und leben mit meiner Frau in der Türkei. Ich rufe jede Woche an. Und natürlich hoffen sie auch, dass es eine Lösung gibt. Aber unter den momentanen Bedingungen können sie nicht herkommen, und ich kann nicht zurück. Ich habe Freunde hier, Deutsche, Kurden, Türken, die versuchen mich zu trösten und mir zu helfen, soweit es in ihrer Macht steht. Aber wie lange soll das so weiter gehen?

Du lebst nicht frei. Du bleibst nie lange an einem Ort. Du verdächtigst alle

Man kann sich das nicht vorstellen wie es ist, illegal zu leben. Deshalb bin ich ja aus der Türkei weggegangen: Illegal hätte ich auch dort leben können. Aber ich wollte ein normales Leben. Ich dachte, in Deutschland gibt es mehr Menschenrechte.

Die letzten sechs Jahre zählen nicht zum Leben, das kann ich sagen: Du lebst nicht frei. Du kannst keine Zukunftspläne machen. Wenn du auf die Straße gehst, fühlst du dich schuldig. Wenn du uniformierte Polizisten siehst, hast du Angst. Und irgendwann siehst du alle Menschen als Zivilpolizisten. Du bleibst nie lange an einem Ort. Denn du verdächtigst die Nachbarn, dass sie dich anzeigen. Du verdächtigst alle. Du hockst zuhause. Manchmal gehst du ins Kino, aber mit ständiger Angst in dir.

Dein soziales Leben ist tot. Letztlich denkst du, dass du keine Zukunft hast. Deine psychische Situation verschlechtert sich. Du hast Angst vor allem, du willst auch nicht zum Arzt gehen. Einmal ging ich zum Arzt, aber ich bin wieder weggegangen, weil ich Angst hatte, die Arzthelferin könnte mich verraten. In der letzten Zeit war ich ein paar Mal beim Arzt, nur um mit ihm zu sprechen wegen meiner psychischen Probleme. Der Arzt macht das umsonst, und wenn ich ein Rezept brauche, stellt er es auf einen anderen Namen aus.

Du gehst mit Angst zur Arbeit. Aber ohne Arbeit ist es noch schlimmer

Ich hatte ab und zu Arbeit, die mir von Bekannten vermittelt wurde, auf dem Bau oder als Reinigungskraft. Dann ist es zwar besser, weil du ein bisschen Geld hast. Aber du gehst mit ängstlichen Gefühlen zur Arbeit, weil es eine Kontrolle geben könnte. Ohne Arbeit ist es aber noch schlimmer, dann hast du gar kein Geld und musst von den Freunden leben. Du bist immer auf der Suche, aber du findest keine Lösung. Ich wünsche mir, dass die Gesetze geändert werden.“

Andere Länder, etwa Spanien, Italien und die USA, haben in der Vergangenheit mehrfach Amnestien für „Illegale“ erlassen. Sie gaben damit Menschen, die schon lange ohne Papiere im Land lebten, die Chance zu bleiben und ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren. In Deutschland hat es so etwas noch nie gegeben. Nach Schätzungen leben eine Million Menschen ohne Papiere im Land. Die wenigsten allerdings so lang wie dieser Kurde. Manche suchten, wenn sich in einem Nachbarland eine Legalisierung anbahnte, dort eine Chance.

„Ich bin zweimal in eine Kontrolle geraten. 2003, als ich mit Freunden in einem Café saß, da wurde ich von Zivilpolizisten kontrolliert. Ich hatte keinen Ausweis, und ich war eine Woche in Untersuchungshaft. Vor zwei Wochen haben sie mich wieder verhaftet, diesmal im Zug. Ich war 24 Stunden in Untersuchungshaft.

Ich verstehe selbst nicht, warum sie mich jedes Mal wieder freilassen. Eigentlich hätten sie mich nach Mannheim bringen müssen (in Abschiebehaft, U. Sch.). Aber ich bin kein Schuldiger. Das illegale Leben ist auch wie im Gefängnis. Die Behörden verstehen das nicht: Wenn jemand unter diesen Bedingungen lebt, heißt das, dass er einen Grund dafür hat.“

 

Erschienen in Publik-Forum 23/2006

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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