Wahrheit und Fälschung

Verschwörungstheorien und „Fake News“ verbreiten sich im Internet unaufhaltsam. Qualitätsmedien halten dagegen – und sind für die Demokratie wichtiger denn je

Die Medien? „Brauchen wir nicht mehr.“ Das sagten unlängst einige Studierende der Freiburger Uni in einem Kurs über – ausgerechnet – journalistisches Schreiben. Die Begründung: „Steht doch alles im Internet.“

Auf den ersten Blick: bingo. Stimmt, es steht alles im Internet, alles und noch viel mehr. Genauer betrachtet: Bullshit. Mal abgesehen davon, dass wir viele gute Informationsangebote im Netz gerade Medien wie ARD/ZDF, ZEIT, Süddeutscher Zeitung und anderen verdanken – die Tatsache, dass im Internet „alles“ steht, ist auch ein riesiges Problem. Sie macht professionellen Journalismus nicht überflüssig, sondern wichtiger denn je.

Ein Muslim aus Kenia, von geheimen Mächten fremdgesteuert

Im Internet steht zum Beispiel, dass der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß umgebracht worden sei – er beging 1987 im Gefängnis Berlin-Spandau Selbstmord. Dasselbe heißt es von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, die 1976 in Stuttgart-Stammheim starb. Im Internet steht, dass Flugzeuge in staatlicher Mission Chemikalien versprühen, um das Klima zu verändern, Menschen zu vergiften oder anderweitig Unheil zu stiften (die so genannte Chemtrail-Theorie). Und Barack Obama war laut „Internet“ ein in Kenia geborener Moslem und wurde von geheimen Mächten fremdgesteuert. Kurz gesagt: Es gibt keine noch so krude Geschichte, die nicht zu finden wäre.

Doch nicht nur absurde Verschwörungstheorien haben ihre Online-Fangemeinden. Auch plausibel erscheinende Gerüchte werden viral verbreitet und können gehörigen Schaden anrichten. Wie vor gut einem Jahr die Mär von der angeblichen Vergewaltigung einer russisch-stämmigen 13-Jährigen durch Araber in Berlin – nach Ermittlungen der Polizei haltlos und offenbar gezielt gestreut von russischer Seite. Oder Renate Künasts vermeintliche Stellungnahme zum Mord an der Freiburger Studentin vergangenen Herbst, in der die Grünen-Politikerin den tatverdächtigen afghanischen Flüchtling in Schutz genommen habe – ebenfalls frei erfunden. Es gibt unzählige ähnliche Beispiele.

Wem nützen die Gerüchte – und wem schaden sie?

„Fake news“ lautet das Stichwort, auf deutsch Falschmeldungen. Die gab es schon immer. Aus Versehen (in alten, analogen Zeiten liebevoll „Zeitungsente“ genannt), oder in böser Absicht. Und es war schon immer Aufgabe seriöser Medien zu klären, was wahr und was falsch ist, wer hinter Gerüchten steckt, wem sie schaden und wem sie nützen. Neu ist die Masse der Falschmeldungen, die in Umlauf sind. Denn durch das so genannte Web 2.0 kann jeder Nachrichten nicht nur ständig und überall lesen, hören oder sehen, sondern sie auch selbst in die Welt setzen.

Das hat manchmal sein Gutes, etwa wenn Bürger in den USA brutale Polizeieinsätze gegen Schwarze filmen und damit eine wichtige Debatte auslösen. In autoritären Staaten ohne freie Presse oder in Kriegsgebieten sind Augenzeugen oft die einzigen, die überhaupt unmittelbar berichten können. Die Aufgabe der Medien ist es dann, deren Youtube-Videos und Twitter-Nachrichten so gut es geht zu überprüfen und aus verschiedenen Quellen ein möglichst umfassendes Gesamtbild zu zeichnen.

Neu ist nicht nur der gewaltige Nachrichtenstrom, der rund um die Uhr durch alle denkbaren Kanäle fließt. Neu ist auch die Geschwindigkeit, mit der Nachrichten sich verbreiten. Vereinzelt ist auch das nützlich, etwa wenn Menschen via Smartphone vor einem Tsunami gewarnt werden oder von einem Amoklauf in ihrer unmittelbaren Umgebung erfahren. Oft schadet die ungebremste Veröffentlichung aber, zum Beispiel wenn dadurch polizeiliche Ermittlungen behindert werden. Das geschah etwa nach dem Berliner Attentat, als die Identität des mutmaßlichen Täters gelüftet wurde, bevor die Polizei dessen Umfeld ausleuchten konnte.

„Postfaktisch“ ist ein Unwort: Es verrät eine Unsitte

Falsche Verdächtigungen oder Verleumdungen sind ohnehin verheerend, sie können Karrieren oder Leben zerstören. Erschwerend kommt hinzu, dass das Internet niemals etwas vergisst: Selbst wenn eine Falschmeldung an ihrem Ursprungsort gelöscht wird, ist sie auf anderen Seiten immer noch zu finden, weil User sie längst geteilt und verbreitet haben.  

Der Begriff „postfaktisch“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Wort des Jahres“ 2016 gekürt. Er wäre besser zum „Unwort“ gewählt worden. Denn er benennt nicht nur die unheilvolle Ausbreitung von Fake News, sondern auch die Erscheinung, dass es immer mehr Menschen egal zu sein scheint, was stimmt und was nicht. Sie stützen sich in ihrer Argumentation und Meinungsbildung nicht mehr auf nachprüfbare Fakten, sondern auf ihre „gefühlte“ Wirklichkeit. Nach dem Motto: Gleich was die Statistik sagt, für mich sind Asylbewerber mehrheitlich kriminell, das wusste ich schon immer und seit der Kölner Silvesternacht 2015 sieht es doch jeder.

Die Spreu vom Weizen trennen

Zur Konstruktion solcher subjektiver Realitäten tragen die großen Digitalkonzerne wie Facebook und Google bei. Sie sorgen dafür, dass Nutzer immer mehr von dem sehen, wofür sie sich ihrem Online-Verhalten zufolge interessieren. Schon mal bei Amazon nach Lego-Star Wars gesucht? Dann bekommen Sie demnächst bestimmt das neueste Raumschiff angezeigt. Online einen Flug gebucht? Die passende Ferienwohnung erscheint wie von selbst auf Ihrem Bildschirm. Ähnlich funktioniert das mit Nachrichten: Wer sich auf Seiten mit Verschwörungstheorien aufhält, bekommt bei jeder Gelegenheit mehr davon angeboten. Mit der Zeit drängt sich der fatale Eindruck auf, dass wohl etwas dran sein müsse – und dass ganz viele andere davon auch überzeugt sind.

Seriöse Medien sind deshalb so wichtig, weil sie die Spreu vom Weizen trennen. Denn wie soll der einzelne Nutzer, die einzelne Leserin unterscheiden, welche Meldungen stimmen und welche nicht? Welche wichtig sind und welche nebensächlich? Bei welchen Ereignissen es sich um typische Erscheinungen handelt, bei welchen um Ausnahmefälle?

Nach bestem Wissen – und Gewissen

Professionelle Journalistinnen und Journalisten überprüfen Nachrichten auf ihre Stichhaltigkeit und Relevanz. Sie checken die Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit. Sie beleuchten Ereignisse von allen Seiten, lassen bei Vorwürfen die Betroffenen Stellung beziehen. Sie berücksichtigen den Schutz der Persönlichkeit, beispielsweise indem sie Namen von Opfern in der Regel nicht veröffentlichen. Sie ordnen Ereignisse ein und versuchen sie zu erklären. Und sie bedenken die Folgen ihrer Berichterstattung mit.

So berichten verantwortungsbewusste Redaktionen in der Regel nicht über Selbstmorde, weil man weiß, dass dies Nachahmer generieren kann. Sie veröffentlichen nach Anschlägen keine Bekennervideos, um nicht die Propaganda der Terroristen zu betreiben. Sie nennen nicht ohne Not die Herkunft von Tatverdächtigen, wenn das nur Vorurteile schüren würde. Kurz: Sie arbeiten nach handwerklichen und ethischen Grundsätzen – zumindest bemühen sie sich darum. Zeitnot, Personalmangel, Konkurrenzdruck und bisweilen auch Gedankenlosigkeit führen leider immer wieder dazu, dass diese Regeln auch von Qualitätsmedien vernachlässigt werden. „Im Internet“ aber, vor allem in Blogs und den zunehmend asozialen Netzwerken, dort gelten solche journalistischen Grundsätze gar nicht erst. Das macht den großen Unterschied aus.

In Diktaturen gibt es keine freie Presse – und ohne freie Presse keine Demokratie

Für Menschen, die ernsthaft und wahrheitsgemäß informiert werden wollen, sind seriöse Quellen deshalb wichtiger denn je. Für die Demokratie sind vielfältige, unabhängige Medien geradezu eine existenzielle Bedingung. In Diktaturen gibt es keine freie Presse, und ohne freie Presse keine Demokratie. Das wissen wir aus der deutschen Geschichte. Und das sehen wir aktuell in vielen Ländern wie China, Russland, der Türkei, Polen oder Ungarn, wo autoritäre oder rechtsgerichtete Regime die Presse drangsalieren. Auch der neue US-Präsident hasst die Medien, verunglimpft ganze Nachrichtensender pauschal als „fake news“. Er selbst arbeitet gerne mit „alternativen Fakten“, was nichts anderes bedeutet als Verdrehung der Tatsachen. Derlei Entwicklungen müssen alle Demokraten zutiefst beunruhigen.

Und die Moral von der Geschicht’? Wer die Demokratie wertschätzt, wer als mündiger Bürger, mündige Bürgerin die Gesellschaft mitgestalten möchte, wer fundiert Politik beurteilen und Wahlentscheidungen treffen will, braucht gute, professionelle Medien. Man sollte sie nicht leichtfertig für überflüssig erklären. Man darf sie nicht als „Lügenpresse“ diffamieren. Und nicht zuletzt: Man müsste auch bereit sein, für ihre Arbeit zu bezahlen.  

Erschienen in „Frau und Mutter“ 03/17

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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