„Es wäre zynisch, die Hilfe abzuziehen!“

Jürgen Lieser, langjähriger stellvertretender Leiter von Caritas international, zu den Vorwürfen der niederländischen Autorin Linda Polman in ihrem Buch „Die Mitleidsindustrie“

Jürgen Lieser, langjähriger stellvertretender Leiter von Caritas international. Foto: Stefan Teplan Jürgen Lieser, langjähriger stellvertretender Leiter von Caritas international. Foto: Stefan Teplan

Von Ulrike Schnellbach

Linda Polman kritisiert, dass sich die Hilfsorganisationen nicht untereinander absprechen, um zu verhindern, dass die Hilfe missbraucht wird.

Jürgen Lieser: Das ist falsch. Es gibt inzwischen eingespielte Verfahren etwa in Regie der Vereinten Nationen, die die Hilfe in Katastrophengebieten koordinieren. Man spricht sich ab, wer in welcher Region hilft und wer etwa für Wasser, Ernährung oder Unterkunft zuständig ist. Auch unter deutschen Hilfsorganisationen und den Ministerien finden solche Absprachen regelmäßig statt. Wir als Caritas stimmen uns darüber hinaus mit den nationalen Caritasverbänden ab, die vor Ort tätig sind. „Bessere Absprachen unter den NGO tragen auch dazu bei, möglichen Missbrauch zu verhindern. Aber leider gibt es auch kleine, unprofessionell arbeitende Hilfsorganisationen, die sich jeder Koordination entziehen.

Linda Polman nennt Beispiele, in denen große Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Hilfe abgezogen haben, weil sie die Bedingungen für nicht mehr vertretbar hielten. Da seien andere Organisationen in die Bresche gesprungen, so dass es einer korrupten Regierung oder einer Konfliktpartei gelang, die NGO gegeneinander auszuspielen und weiter die Bedingungen zu diktieren.

Lieser: Diese Beispiele gibt es, das kann man nicht leugnen. Kriegsparteien missbrauchen Hilfe dazu, ihre eigenen Ziele durchzusetzen, Rebellen nutzen sie, um ihre Anhänger durchzufüttern. Die Frage ist nun: Trifft Frau Polmans Vorwurf zu, dass sich die Hilfsorganisationen auf diesen Missbrauch einlassen? Dabei muss man relativieren. Es funktioniert nicht einfach so, dass die eine Organisation Skrupel bekommt und abzieht und eine andere die Lücke füllt.

Wie ist es dann? Gibt es in solchen Fällen, wenn Regierungen oder Warlords unzumutbare Bedingungen diktieren, effektive Absprachen zwischen den Hilfsorganisationen?

Lieser: Das ist leichter gesagt als getan. Nehmen wir das Beispiel Darfur. Die sudanesische Regierung schränkt die Hilfsorganisationen sehr stark in ihrer Arbeit ein und bestimmt, wo sie überhaupt tätig werden dürfen. Vor zwei Jahren hat die sudanesische Regierung einige NGO ausgewiesen mit der Begründung, sie hätten sich kritisch über die Menschenrechtssituation dort geäußert. Da stand natürlich für alle anderen Hilfsorganisationen die Frage im Raum: Sollen wir jetzt aus Solidarität nicht alle abziehen?

Und – sind alle gegangen?

Lieser: Nein. Das ist das Dilemma: Das Grundprinzip ist, dass wir unabhängig von politischen Einflüssen tätig sein müssen nur nach dem Kriterium, wo Hilfe gebraucht wird. Wenn dieses Prinzip verletzt ist und man daraus die Konsequenz zieht, dort nicht mehr zu arbeiten, dann bedeutet das, dass man die Menschen, die die Hilfe brauchen, im Stich lässt. Vor diesem Dilemma stehen wir oft.

Hat es schon einmal eine Situation gegeben, wo Caritas international zu dem Schluss kam, dass es das kleinere Übel ist, nicht zu helfen?

Lieser: Es gibt immer wieder Situationen, in denen die Rahmenbedingungen so sind, dass wir erst gar keine Hilfsprojekte beginnen. Zum Beispiel war es während der Balkankriege so, dass einige unserer katholischen Partner Partei waren und wollten, dass wir als Caritas nur den Christen und nicht auch serbischen und bosnischen Kriegsopfern helfen. Darauf konnten wir uns nicht einlassen, so dass wir bestimmte Projekte nicht gemacht haben. Ein anderes, immer wieder diskutiertes Beispiel ist Nordkorea: Da können wir nicht ausschließen, dass die Regierung zum Teil Einfluss darauf nimmt, wohin die Hilfsgüter gehen. Deshalb standen wir schon des Öfteren vor der Frage, ob wir das Programm nicht lieber einstellen sollen – haben uns aber bisher dagegen entschieden.  

Wie ist es in einem politischen Konflikt möglich, als Helfer unpolitisch zu bleiben?

Lieser: Es wäre naiv zu glauben, dass man sich in einem politischen Vakuum bewegt. Es ist aber Grundprinzip unserer Arbeit, den Opfern zu helfen, egal von welcher Seite sie sind. Es ist nicht Aufgabe von humanitären Organisationen, gleichzeitig dazu beizutragen, den Konflikt zu lösen – damit wären sie überfordert.

Kann es manchmal sein, dass man den Konflikt ungewollt sogar schürt oder verlängert, indem man hilft?

Lieser: Ja, das ist nicht auszuschließen. Wir haben in jedem Flüchtlingslager neben Vertriebenen auch Rebellen, die das Lager als Rückzugsgebiet nutzen, und wir können sie nicht aussortieren, weil wir sie nicht erkennen. Also füttern wir die Rebellen mit durch und tragen vielleicht ungewollt dazu bei, den Konflikt zu verlängern. Aber es wäre doch zynisch, deswegen die Hilfe abzuziehen!

Können sich Hilfsorganisationen vor politischer Instrumentalisierung überhaupt schützen?

Lieser: Ja, das kann man an der deutschen Afghanistan-Politik zeigen: Nach dem Konzept der „Vernetzten Sicherheit“ hat das Entwicklungshilfeministerium entschieden, die Vergabe von Geldern an NGO an die Bedingung zu knüpfen, dass sie ihre Aktionen mit der Bundeswehr abstimmen. Auch das ist eine Form von Missbrauch. Das haben die deutschen Organisationen über ihren Dachverband VENRO  abgelehnt. Caritas hat für sich entschieden, aus diesem Entwicklungshilfe-Topf keine Gelder zu beantragen.

Linda Polman wirft den Hilfsorganisationen vor, dass sie alle ein möglichst großes Stück vom Kuchen der Hilfsgelder abbekommen wollen – sie nennt das „Big Business“.

Lieser: Wir sind eine Non-profit-Organisation, wir verdienen kein Geld. Insofern verstehe ich den Vorwurf mit dem „Big Business“ nicht. Wir bemühen uns um Gelder, um damit gute Projektarbeit zu finanzieren. Was ist daran schlecht?

Jürgen Lieser war 30 Jahre in verschiedenen Funktionen für Caritas international tätig, zuletzt als stellvertretender Leiter. Er ist zum 1. Juni 2011 in den Ruhestand gegangen. 

Erschienen in Publik-Forum 13/2011

 

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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