Mission Mauerrisse

Der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin haben ihre Töchter durch Gewalt im Nahostkonflikt verloren. Seitdem treten sie gemeinsam für Versöhnung ein – mit Humor, Hoffnung und einer unerwarteten Forderung an die Deutschen.

Von Ulrike Schnellbach

Bassam Aramin und Rami Elhanan
Fühlen sich als Brüder: Bassam Aramin (links) und Rami Elhanan

Der 4. September 1997 liegt 25 Jahre zurück, aber Rami Elhanan erinnert sich an jede Einzelheit. Es war der Tag, der sein Leben aus den Angeln hob. Sein glückliches, friedliches, unpolitisches Jerusalemer Leben, ein „Leben in einer perfekten Bubble“, wie es der 73-Jährige rückblickend beschreibt. Der erfolgreiche Grafikdesigner und vierfache Familienvater hörte in den Nachrichten von dem Sprengstoffanschlag in der Ben-Jehuda-Straße. Jeder Israeli kenne das, sagt er: „Immer wenn du von einem Anschlag hörst, betest du, dass der Finger des Schicksals nicht auf dich zeigt.“ Da seine Tochter sich nicht meldete, fuhr er an diesem Tag von Krankenhaus zu Krankenhaus, raste in wachsender Panik von Polizeiwache zu Polizeiwache. Bis er am Abend mit seiner Frau in einer Leichenhalle stand. „Das Schicksal zeigte genau auf mich“, sagt Rami Elhanan und richtet seinen Zeigefinger auf den Punkt zwischen seinen Augen.

Seine Tochter Smadar war 13 Jahre alt. Für einen Moment erweckt der Vater sie an diesem novembergrauen Abend in der Evangelischen Hochschule in Freiburg zum Leben. „Sie war unglaublich“, erzählt er auf Englisch, eine ausgezeichnete Schülerin und Schwimmerin, ein Mädchen voller Energie und Lebensfreude, das Klavier spielte und auf den Tischen tanzte. „Wir nannten sie nur Prinzessin.“

Eine folgenreiche Entscheidung

Danach, sagt Elhanan, ein Mann mit einem freundlichen Gesicht, „danach bist du nicht mehr derselbe Mensch“. Er musste eine Entscheidung treffen: Entweder für immer und ewig zu hassen und auf Rache zu sinnen. Oder zu versuchen zu verstehen: Warum haben die das gemacht? Die drei Attentäter, die Smadar und vier weitere Menschen töteten, waren junge Palästinenser. Sie sprengten sich selbst mit in den Tod. Elhanan entschied sich für den zweiten Weg, den schwierigeren, wie er sagt.

Er lernte andere Eltern kennen, die ihre Kinder durch Gewalt verloren hatten. Sie schlossen sich im „Parents Circle“ zusammen, „um den Schmerz beiseitezuschieben und gemeinsam nach Lösungen zu suchen“. Skeptisch und voller Vorbehalte ging Elhanan zum ersten Treffen. Da seien wildfremde Palästinenser auf ihn zugekommen, erzählt er, und es wirkt, als staune er bis heute darüber. Sie hätten seine Hand geschüttelt, ihn umarmt, mit ihm geweint. „Zum ersten Mal sah ich Palästinenser als menschliche Wesen“, gesteht er. Und fügt trocken hinzu: „Der Parents Circle ist wohl die einzige Organisation weltweit, die sich keine neuen Mitglieder wünscht.“ Mehr als 600 israelische und palästinensische Familien gehören dem Kreis an. Zehn Jahre nach Rami Elhanan kam Bassam Aramin dazu.

„Wir hassten sie einfach.“

Bassam Aramin, 54, erhebt sich von seinem Stuhl an Elhanans Seite und beginnt so: „Ich bin Palästinenser. Und ich kann nichts dafür. Ehrlich, es war ein Zufall.“ Erste Lacher im Publikum. Wie gut das tut, dieses verbindende Lachen, bei so viel Schmerz. Aramin weiß das und macht weiter: Er stamme „aus einer kleinen Familie, nur 16 Geschwister“, aufgewachsen in einer Höhlenwohnung bei Hebron im Westjordanland. Dann kommt er zur Sache. „Wir mussten nicht zur Schule gehen, um zu lernen, die Israelis zu hassen. Wir hassten sie einfach.“ Denn sie kannten Israelis nur als Soldaten, Grenzposten oder Siedler. Und bald sollte er noch israelische Gefängniswärter kennenlernen.

In einem besetzten Land, sagt Aramin, „wird jeder zum Fundamentalisten“. Denn alle leiden unter der Unfreiheit, der Unterdrückung, der allgegenwärtigen Diskriminierung. Also gründete er als Jugendlicher mit seinen Kumpels eine Gang, um die Besatzer zu bekämpfen. Sie warfen Steine, einmal auch ein paar Handgranaten, die sie gefunden hatten. Sieben Jahre Haft. Bassam war 17.

Fassungslos über die Shoah

Alles Schalkhafte ist jetzt aus seinen Gesichtszügen verschwunden. Er spricht weiter, das Publikum lauscht gebannt: Im Gefängnis lernte er fließend Hebräisch – „kenne deinen Feind“, so seine Devise damals. Heute ermöglicht ihm das, sich nicht nur auf Englisch mit seinem Freund Rami zu unterhalten, sondern in dessen Muttersprache. Wobei „Freund“ es für die beiden Männer nicht trifft. „Dieser palästinensische Terrorist“, sagt Elhanan bei der Freiburger Veranstaltung, „ist mein Bruder. Er ist mir näher als jeder in meiner Familie.“

Einmal, erzählt Aramin, schaute er sich im Gefängnis einen Film über den Holocaust an. „Ich wollte Juden leiden sehen.“ Doch der Film brachte ihn zum Weinen, die nackten Leichen, die abgemagerten Körper, die Nummern an den Handgelenken. „Diese Grausamkeit, die Menschen fähig sind, anderen Menschen anzutun.“ Er konnte es nicht fassen. Auch deshalb hielt er die Shoah für eine Propagandalüge, beschloss aber, mehr darüber herauszufinden. Nach der Haft beschäftigte er sich intensiv mit dem Massenmord an Jüdinnen und Juden. Und begann dabei, anders über den Nahostkonflikt zu denken. Die israelische Besatzung in Palästina sah und sieht er bis heute als das Grundübel. Aber nicht mehr nur für sein eigenes Volk: „Sie zerstört beide Seiten.“ Israelis und Palästinenser, sagt Aramin, versuchten seit hundert Jahren, einander zu eliminieren. Doch das mache Israel nicht sicher und Palästina nicht frei. „Also brauchen wir einen anderen Weg.“

„Wir trafen uns als Feinde, die reden wollten.“

Diese Überzeugung führte ihn im Jahr 2005 zu dem „schwierigsten Treffen“ seines Lebens, bei dem er unter anderem Rami Elhanan kennenlernte: Er verabredete sich mit israelischen Ex-Soldaten, die sich nicht mehr am Besatzungsregime beteiligen wollten. An dieser Stelle fällt Elhanan ihm ins Wort: „Ex-Kriegsverbrecher!“ Er meint damit auch sich selbst: Elhanan hat in drei Kriegen gekämpft. Hat Menschen getötet. Kameraden sterben sehen. Überlebt.

Sie müssen sich sehr misstrauisch beäugt haben damals bei dem Treffen, die Israelis und die Palästinenser, ein Dutzend Leute insgesamt. „Wir trafen uns als wahre Feinde, die reden wollten“, sagt Aramin und stellt klar: Dabei sei es ihnen nicht darum gegangen, freundlich zur jeweils anderen Seite zu sein. „Sondern darum, unsere eigene Humanität und Moral zu retten.“ Sie brauchten ein Jahr, um sich auch nur auf einen Namen zu einigen: Combatants für Peace, Kämpfer für den Frieden. Mit der Zeit lernten der muslimische Palästinenser Bassam und der jüdische Israeli Rami einander schätzen. „Rami und seine Frau luden uns zum Essen ein“, erinnert sich Aramin und fügt mit einem Augenzwinkern an: „koscheres Essen!“ Es folgte die Gegeneinladung – „und jetzt wollen sie alle zwei Wochen zu uns kommen.“ Wieder so ein Moment, in dem die Männer schäkern, zusammen lachen. Ein eingespieltes Duo. Man könnte beinahe vergessen, dass ihre stärkste Verbindung die Trauer ist.

„Unser Blut hat dieselbe Farbe, unsere Trauer ist dieselbe.“

Als sie sich kennenlernten, lebte Abir noch, Aramins zweitjüngstes Kind. Sie zeichnete gerne, liebte Bären und das Meer. Gesehen hat sie es nie – Israel verwehrt Palästinensern meist die Fahrt von der Westbank ans Mittelmeer, keine 80 Kilometer entfernt. Zwei Jahre später, am 16. Januar 2007, wurde auch Abir getötet, am Hinterkopf getroffen von einem Gummigeschoss aus dem Gewehrlauf eines israelischen Grenzsoldaten. Sie war zehn Jahre alt, auf dem Weg zur Schule, hatte sich gerade ein Armband aus süßen Perlen gekauft. Der Mord wurde nie gesühnt. „Es ist in Israel kein Verbrechen, einen Palästinenser zu töten“, sagt der fünffache Vater bitter. Dass er dennoch Friedensaktivist geblieben ist, mag erstaunen. Er sieht es so: Beide Töchter, Abir wie Smadar, seien von denselben Tätern umgebracht worden: „von der Besatzung; vom Terror“.

Seit Abirs Tod treten Aramin und Elhanan gemeinsam auf, erzählen von ihren Töchtern, werben für Versöhnung. „Wir reden mit allen, ob sie es hören wollen oder nicht“, sagt Elhanan. „Wir erzählen palästinensischen und israelischen Schülern, dass unser Blut dieselbe Farbe hat, dass unsere Trauer dieselbe ist.“ In aller Welt mahnen sie, „dass das, was wir können, alle können: für Frieden eintreten“. Immer dieselbe eindringliche Botschaft, dieselbe schmerzhafte Geschichte, tagaus, tagein. Eine vergebliche Mission, so scheint es, denn von Versöhnung ist im verhärteten Nahostkonflikt keine Spur.

„Die wahren Mauern befinden sich in unseren Köpfen.“

Natürlich sei es enttäuschend, wenn sich nichts bewegt, sagte Elhanan dem irischen Autor Colum McCann, der sein und Aramins Leben in einem Roman verarbeitet hat. Das bringe ihn aber nur dazu, seine Geschichte noch eindringlicher zu erzählen, jeden Tag, solange er lebe, weil jedes Mal andere Menschen zuhören. Das eigentliche Problem sei nicht Israels Mauer zu den palästinensischen Gebieten. „Die wahren Mauern befinden sich in unseren Köpfen, und jeden Tag füge ich einer anderen einen Riss zu.“

Aramin beantwortet die Frage nach dem Antrieb in der ihm eigenen leicht provokanten Art: „Wir haben nicht sechs Millionen Juden getötet.“ „Noch nicht“, wirft Elhanan ein. „Und die Israelis haben – noch – keine sechs Millionen Palästinenser umgebracht.“ Er wendet sich direkt ans Publikum: „Sie haben einen Botschafter in Tel Aviv. Israel hat einen Botschafter in Berlin. Verstehen Sie? Wir sind nicht die Ersten, die Versöhnung suchen.“ Aramin ist überzeugt: „Es wird Frieden geben. Die Frage ist nur, wie viel Blut wir bis dahin noch vergießen werden.“ Was es braucht für Versöhnung, sehen beide gleich: Respekt. Augenhöhe.

„Vergesst eure Schuldgefühle!“

Und was erwarten die Friedensbotschafter aus Nahost von uns? Der Palästinenser beantwortet auch dies mit einer klaren Ansage: „Vergesst eure Schuldgefühle!“ Denn die hinderten die Deutschen daran, Israel für das Besatzungsregime zu kritisieren, seinen Rassismus anzuprangern, die Apartheid beim Namen zu nennen. Als Deutsche zuckt man da unwillkürlich zusammen, stehen solche Aussagen doch hierzulande generell unter Antisemitismus-Verdacht. Was wird der Israeli dazu sagen? Auch hier passt kein Blatt zwischen Aramin und Elhanan. „Israel ist ein unmoralischer Besatzerstaat. Und gegen ein Besatzungsregime zu sein, ist kein Antisemitismus.“ Sagt Rami Elhanan, der Sohn eines Auschwitz-Überlebenden, im Land der Täter.

Wie kann es weitergehen in ihrer zerrissenen, friedlosen Heimat? Mit Blick auf die etwa 850.000 jüdischen Siedler in den palästinensischen Gebieten – „bei weitem nicht alle Fanatiker!“ – sagt Elhanan: „Man kann nicht das Unrecht der Besatzung beheben, indem man mit der Vertreibung der Siedler ein neues schafft.“ Somit sei die Zweistaatenlösung passé. Elhanans Plädoyer: ein Land, in dem alle gleichberechtigt zusammenleben.
Einsatz Aramin: „Rami soll der erste Präsident dieses Landes sein.“ Kunstpause. „Und ich der erste Premierminister!“

Mit Hoffnung und Humor, so endet dieser Abend. Doch am Morgen nach der Veranstaltung melden die Nachrichten zwei Anschläge im Großraum Jerusalem. Viele Schwerverletzte. Ein Toter: ein 16-jähriger Teenager.

Der irische Autor Colum McCann hat die Geschichte in einem Roman verarbeitet: Apeirogon.
New York 2020, deutsche Ausgabe: Rowohlt Verlag, Hamburg 2022

Webseite Parents Circle: https://www.theparentscircle.org/en/about_eng/
Webseite Combatans für Peace: https://cfpeace.org/

 

Erschienen in Publik-Forum 24/2022

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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