Lily und Marie sind nur anders

Das Ehepaar Zilske hat zwei Mädchen mit Down-Syndrom adoptiert.
Besuch bei einer außergewöhnlich normalen Familie

Von Ulrike Schnellbach

Lily und Marie Lily (links) und Marie (rechts) spielen gerne im Garten mit den Nachbarskindern - Foto: privat

In jenem Jahr wollten Martina und Helmut Zilske mit der anderthalb-jährigen Marie nach Fuerte Ventura fliegen. Urlaub am Strand, Rundumversorgung im Hotel, Erholung eben. Doch daraus wurde nichts. Ganz und gar nichts. Ein Anruf kam dazwischen, der das Familienleben der Zilskes erst einmal auf den Kopf stellen sollte: In einer Hamburger Klinik war soeben Lily geboren, und Lilys Mutter gab sie nach nur einer Nacht zur Adoption frei.

So sagten die Zilskes ihren Urlaub ab und fuhren stattdessen nach Hamburg, Lily abholen. „Sie war ein ganz süßes Baby“, sagt Martina Zilske (41) und zeigt ein Foto der Neugeborenen. Auffällig nur der breit daliegende Bauch, den keine Muskulatur zusammenzuhalten scheint. Lily war mit Down-Syndrom zur Welt gekommen, die Muskelschwäche eines der Symptome.

Nun war es ja nicht so, dass Lily das erste behinderte Kind der Zilskes war: Auch Marie, die Martina und Helmut Zilske anderthalb Jahre zuvor adoptiert hatten, hat Down-Syndrom. „Wir dachten also, wir wüssten, was auf uns zukommt“, erzählt Helmut Zilske (52), „aber da hatten wir uns getäuscht.“ Das erste Jahr mit Lily stellte die Eltern auf eine harte Probe, und es gab Momente, in  denen beide dachten, sie würden es nicht schaffen.

„Lily war ein so schlappes, inaktives Baby, dass wir sehr zweifelten, ob daraus ein aktiver Mensch werden kann“, sagt Martina Zilske. Vier Mal am Tag mussten die Eltern Gymnastik mit dem Baby machen, je eine halbe Stunde. Und das bedeutete: eine halbe Stunde Gebrüll. Dazu die Unsicherheit, ob diese enorme Anstrengung überhaupt zum Ziel führen würde.

„Nach einem Jahr wurde deutlich, dass es funktionierte.“ Die Erleichterung ist den Eltern noch heute anzumerken. Lily lernte tatsächlich krabbeln und mit anderthalb Jahren auch laufen. Ihr Bauch ist bis heute etwas schwabbelig, aber die tägliche Gymnastik hilft beim Muskelaufbau. Lily ist inzwischen vier, Marie bald sechs Jahre alt.

„Ich bin die Große“, sagt Lily, die Kleine

Besuch bei einer außergewöhnlichen Familie. Ein ruhiges Wohngebiet in Leichlingen bei Leverkusen, eine Doppelhaushälfte. Ein Mädchen – blonde Rattenschwänze, rote Kinderbrille, weite weiße Bluse – kommt barfuß aus der Küche gehüpft, streckt mir die Hand entgegen und fragt: „Wie heißt du?“ „Ulrike“ kann sie sofort aussprechen, das gelingt nicht allen Kindern. Sie hat Reste von Uhu an den Händen, was sie sehr beschäftigt. „Da, Kleber, da auch. Iiih!“

„Bist du die Große oder die Kleine?“, will ich wissen. „Die Große“, sagt sie stolz, schließlich ist sie gerade vier geworden. Ihre Mutter schaut aus der Küche und korrigiert lachend: „Nein, Lily, du bist die Kleine, auch wenn du das gerne anders hättest.“

Wir fahren mit den Rädern zur Sprachtherapie, Lily dreht sich im Kindersitz immer wieder um, lacht mich an und fragt ihre Mutter: „Wie heißt die?“ Sie singt ein Lied, plappert fröhlich vor sich hin. Im Wartezimmer will sie ihren Helm an die Garderobe hängen, die zu hoch ist. „Schaff’ ich nicht“, stellt sie fest, „hilf!“ Sie betrachtet ein Bild, teilt mit: „Haus. Tiere.“ Tiere mag sie sehr. „Affen, Tauben, Elefanten“, zählt sie auf und weiß auch, wo Affen zu finden sind: „Baum.“

Lilys Wortschatz ist für ein Down-Syndrom-Kind sehr groß, bescheinigt ihr die Logopädin. Mit der Grammatik ist sie nicht ganz so weit, spricht viel in Einwortsätzen. Aber sie kann auch anders. Wenn ihre Mutter sie auffordert: „Sag einen ganzen Satz, Lily“, dann klappt das meist auch. 

Jeder Tag beginnt mit einem Übungsprogramm

Viele Menschen mit Down-Syndrom können schlecht sprechen. Die Gründe: Die Kiefermuskulatur ist schlapp, häufig hängt die Zunge aus dem offenen Mund. Und das akustische Gedächtnis dieser Menschen ist unterentwickelt, so dass sie allein durch Hören nur unzureichend sprechen lernen. Doch dagegen gibt es Methoden: Bei der Logopädin saugt Lily mit einem dünnen Silikon-Schlauch Brause aus einem Becher – das trainiert die Backenmuskeln. Sie spricht ein „F“ und fühlt mit dem Finger den Lufthauch, den das erzeugt.

Den größten Anteil an der guten Sprachentwicklung dürfte jedoch Martina Zilske haben. Die ausgebildete Sonderpädagogin, die an einer Musikschule behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet, fördert ihre Töchter sehr gezielt. So beginnt jeder Tag bei Familie Zilske mit einem festen Übungsprogramm. Nach dem Frühstück, wenn Helmut Zilske mit Lily Krankengymnastik macht, setzt sich Martina Zilske mit Marie eine dreiviertel Stunde an den Tisch, um Lesen zu üben. „Da gibt es nie eine Ausnahme, auch nicht, wenn wir krank sind.“

Mit übertriebenem Ehrgeiz hat das nichts zu tun, sondern mit dem neuesten Stand der Wissenschaft. Der besagt, dass Menschen mit Trisomie 21 besser sprechen lernen, wenn sie lesen können. „Als ich studiert habe“, erinnert sich Martina Zilske, „hieß es, Down-Syndrom-Menschen können nicht Lesen lernen. Heute weiß man, dass sie es können – und zwar am besten besonders früh.“ Und so kann Marie mit fünfeinhalb Jahren lesen. Die kleine Schwester liest bereits Buchstaben und Silben.

„Das bist du – und das ist ein Regenschirm, damit du nicht nass wirst“

Nach dem Mittagessen holen wir Marie aus dem Kindergarten ab, einem integrativen. Als Marie ihre Mutter hereinkommen sieht, protestiert sie umgehend und dreht ab: „Ich will malen!“ Sie ist etwas schmächtig für ihr Alter, trägt eine Brille und eine Augenklappe. Aber das typische Down-Syndrom-Gesicht hat sie so wenig wie ihre Schwester.

Als die Mutter sie auf den Besuch hinweist, blickt Marie auf und sagt begeistert: „Ja, super! Geht die mit zu uns nach Hause?“ Nun erzählt sie es allen: „Schau, mein Besuch!“ Sie schenkt mir ein Bild, das sie gemalt hat, und erklärt: „Das bist du. Da ist eine Wolke, und das ist ein Regenschirm, damit du nicht nass wirst.“

Nach Hause fährt Marie mit dem Fahrrad, etwas wacklig zwar, aber ohne Hilfe. Im Durchschnitt, sagt Martina Zilske, lernen Down-Syndrom-Kinder mit fünfeinhalb Jahren gerade Dreirad fahren. Dass ihre Töchter motorisch so fit sind, auch das erklärt sich die Mutter mit der intensiven Förderung. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir zweimal zufällig ein Wunderkind bekommen haben.“

Sie kennt andere Down-Syndrom-Kinder, die viel vor dem Fernseher sitzen; in ihrer Entwicklung sind sie weit zurück. „Regel-entwickelte Kinder“, weiß Martina Zilske, „lernen vieles von selbst. Unsere müssen mehr üben.“ Sie ist sich gar nicht sicher, was genau die genetische Abweichung bei Trisomie 21 bewirkt – und welchen Anteil an der Behinderung die Behandlung hat, die diesen Menschen normalerweise widerfährt.

„Sie werden oft aushalten müssen, dass das Leben nicht lustig ist“

Für die Sonderpädagogin steht deshalb eines fest: Marie wird nicht in eine Sonderschule kommen. „Sie hat in zwei Jahren von mir so viel gelernt, das lasse ich mir nicht zunichte machen“, sagt sie resolut. „In der Sonderschule gucken die Kinder nur alle Macken voneinander ab.“ Wenn es im nächsten Jahr so weit ist, werden die Zilskes um einen der wenigen Plätze in einer integrativen Schule kämpfen.

Ja, die Schulfrage. Selbst wenn Marie und Lily in einer Regelschule aufgenommen werden, befürchtet der Vater, dass sie dort Gewalt erleben, weil Mitschüler sie „als Underdogs“ behandeln. „Sie werden oft aushalten müssen, dass das Leben nicht lustig ist.“ Schlimm könne es auch werden, „wenn den Mädchen zu wenig zugemutet wird“, sagt Helmut Zilske, der selbst Lehrer ist. „Man muss sie fördern und fordern. Nur betütteln nützt nichts.“

Zuhause will Marie zeigen, „was wir für coole Spiele haben“, und holt ein Liederbuch aus dem Regal. Gezielt sucht sie ein afrikanisches Lied, „O-olele, o-olele“, Martina Zilske legt eine CD ein, und Mutter und Kinder – wie jeden Tag ist das vier-jährige Nachbarsmädchen Sofie zum Spielen gekommen – setzen sich in einen Kreis, singen und klatschen.

Danach spielen die Mädchen oben im Spielzimmer. Mal ist Lachen zu hören, mal Geschrei. Marie ruft herunter: „Mama, die Lily haut uns!“ Sofie: „Mich auch!“ Darauf Lily: „Mich auch!!!“ Martina Zilske lacht. „Das ist interessant, Lily!“ Später gehen Marie und Sofie in den nahe gelegenen Supermarkt und kommen wie angekündigt mit drei Brötchen zurück. Alleine Einkaufen: das haben die Zilskes mit Marie systematisch trainiert.

Lily zürnt, weil sie nicht mitgenommen wurde – und ist kurz darauf wie vom Erdboden verschwunden. Die Eltern bewahren Ruhe, Papa geht Suchen. Er entdeckt die Kleine schließlich allein im Supermarkt.

„Man muss gut strukturiert sein. Aber anstrengend? Das ist es nicht“

„Leben mit Lily“ – so hat Martina Zilske Lilys Fotoalbum überschrieben. Anstrengend? Nein, sagt sie erstaunt, anstrengend finde sie die Mädchen nicht. Überhaupt fällt ihr auf die Fragen nach Schwierigkeiten, nach Sorgen oder Ängsten, nicht so recht etwas ein. Dabei wirkt Martina Zilske nicht wie jemand, der sich die Dinge schön redet. Eher wie eine, die mit beiden Beinen im Leben steht. Eine energische Person, die weiß, was sie will und was sie kann.

„Man muss ziemlich gut strukturiert sein“, sagt sie, aber auch das klingt nicht nach besonderem Stress. Probleme erwartet sie in der Pubertät, wenn die Mädchen merken, dass Partnerschaften für sie nicht so einfach sind wie für andere. „Aber das lösen wir dann.“ Bislang spielt es für andere Kinder noch keine Rolle, dass Marie und Lily ein bisschen anders sind.

„Es ist schon ein Aufwand“, räumt Helmut Zilske ein, „und es gibt auch Momente des Neides“ – darauf, dass bei anderen Kindern vieles von selbst kommt. „Was wir anstellen mussten, bis die beiden laufen konnten!“ Seine Frau sagt: „Manchmal habe ich gedacht, ich bin größenwahnsinnig, dass ich mir einbilde, ich bekomme so ein ganzes Chromosom in den Griff.“ Und mit einem Augenzwinkern fügt sie an: „Ein bisschen größenwahnsinnig sind wir ja auch.“

Die meisten Frauen bangen während der Schwangerschaft, ob sie ein gesundes Kind zur Welt bringen. Machen Ultraschall- oder sogar Fruchtwasseruntersuchungen, um eine Behinderung möglichst auszuschließen. „Unsere Kinder sind auch gesund“, kontert Martina Zilske, „sie sind nur anders.“

„Wir hätten uns nicht jede Behinderung zugetraut“

Dennoch: Wie kann man sich freiwillig etwas aufhalsen, vor dem sich die meisten fürchten? Für die Zilskes sind ihre Töchter „eine kleine Lebensaufgabe“, wie es der Vater formuliert. Eigene Kinder konnten sie nicht bekommen. Auf dem Adoptionsantrag dann die Frage: „Können Sie sich auch ein behindertes Kind vorstellen?“ Die Bereitschaft reifte langsam, und die Eltern waren durchaus realistisch. „Wir hätten uns nicht jede Behinderung zugetraut“, sagt Martina Zilske klar, „Autismus zum Beispiel nicht.“

Christliche Motive spielten bei der Entscheidung eine Rolle, aber auch einfach dies: „Wir wollten nicht nur für das Geld leben, für den nächsten tollen Urlaub, das nächste größere Auto“, sagt Helmut Zilske. „Durch die Förderung der Kinder bekommt auch der Lebensweg der Erwachsenen einen anderen Sinn. – Und andererseits“, gibt er zu bedenken, „hatten wir manche Probleme nicht, die leibliche Eltern haben: Den Schmerz nach der Geburt, wenn die Behinderung festgestellt wird. Oder den Wunsch, schnell ein neues Kind zu bekommen und das behinderte in eine Ganztageseinrichtung abzuschieben.“

Was denken die Zilskes über die leiblichen Eltern von Marie und Lily, die ihre Kinder ganz „abgeschoben“ haben? Martina Zilske denkt lange nach. „Im Grunde bin ich ihnen total dankbar“, sagt sie schließlich. „Auch wenn ich finde, dass es unnötig ist, Down-Syndrom-Kinder wegzugeben. Man kann das gut schaffen.“

Diesen Eindruck hatten offenbar auch die beiden Frauen, die auf Medienberichte hin die Familie Zilske besuchten. Sie erwarteten selbst behinderte Kinder und erwogen eine Abtreibung. „Das geht dann nicht mehr“, sagt Helmut Zilske, „da brauchen wir gar nichts zu sagen, das machen die Kinder alleine. Sie sind eine Botschaft aus sich heraus.“

92 Prozent der im Mutterleib diagnostizierten Down-Syndrom-Kinder, weiß Martina Zilske, werden abgetrieben. „Oft aus Unwissenheit“, ist sie überzeugt. Dabei gebe es mittlerweile mehr Anfragen nach Adoption solcher Kinder, als Kinder zur Welt kommen. Und dann sagt ihr Mann noch: „Jeder, der hier ist, sieht, was für ein wunderbares Leben das ist: das der Kinder und unseres mit den Kindern.“

In diesem Jahr haben die Zilskes ihren Traum von dem Urlaub in Fuerte Ventura wahr gemacht. Vier Jahre später als geplant – und zu viert.

 

Erschienen in Publik-Forum, der Badischen Zeitung und Leben & Glauben, 2004/05

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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