Leben wie im Zoo…

... aber sonst ganz prima: Eine Liebeserklärung an Freiburgs Vorzeigestadtteil Vauban

Von Ulrike Schnellbach

 

Vauban Vauban
Große Anziehungskraft: Tagtäglich besuchen Touristengruppen aus dem In- und Ausland das Vauban. Sie bestaunen Passivhäuser mit Solarpanels, autofreie Wohnstraßen und entdecken so manche Kuriosität. – Fotos: Ulrike Schnellbach

Beginnen wir mit dieser Szene: Eine Besuchergruppe schlendert durchs Viertel und die Kita-Kinder hinter dem Zaun rufen im Chor: „Keine Fotos, keine Fotos!“ Das versteht nur, wer weiß, dass durch diesen Stadtteil täglich reisebusweise Touristen flanieren. Die Kameras gezückt, die Köpfe zu den Solarpanels auf den Dächern emporgereckt, lauschen sie einem Fremdenführer, der auf Französisch, Englisch oder Japanisch über das Bauen in Baugruppen berichtet, über das Wohnen in Passivhäusern und das Leben in einem Quartier, in dem Autos eine Randerscheinung sind. „Leben im Vauban ist manchmal wie im Zoo“, sagt ein Nachbar treffend.

Die Touristen kommen aus aller Welt, um einen sozial-ökologischen Vorreiterstadtteil zu sehen, der als Best-practice-Beispiel auf der Weltausstellung Habitat 2010 in Shanghai vorgestellt wurde. Sie bestaunen die ersten Mehrfamilienhäuser Deutschlands in Passivhaus-Bauweise und begutachten die kunterbunten Straßenzüge mit Reihen- und Geschosswohnungsbau. Sie schlendern durch die Allee mit den alten Linden und die stellplatzfreien Querstraßen, auf denen Kinder Tischtennis spielen oder Himmel-und-Hölle hüpfen.

Die Straßen ohne Stellplätze sind Lebensraum für Jung und Alt. Denn gut die Hälfte der 5000 Vauban-Bewohner verzichtet auf einen eigenen Wagen und nutzt stattdessen Car sharing. Die anderen stellen ihre Fahrzeuge in einem Parkhaus am Rand ab. Autos fahren Schritttempo. Die meisten Bewohner sind mehr mit dem Rad unterwegs oder mit der Straßenbahn, die ins Stadtzentrum eine Viertelstunde braucht.

Sogar die Räder sind aus Holz

So sehr sind die Besucher auf innovative Öko-Ideen gepolt, dass sie sich auch durch alltägliche Kleinigkeiten in Staunen versetzen lassen: Einmal geriet mein kleiner Sohn auf seinem Laufrad in eine Gruppe Franzosen. Zeigte einer auf das Kinderrad und rief entzückt aus: „Même les vélos sont en bois!“ (Selbst die Räder sind hier aus Holz!) Die Frau, die alleine durchs Viertel irrte, schien dagegen nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein: „Wo finde ich denn hier das Niedrigenergiehaus?“ Wie bitte: Niedrigenergie ist bei Neubauten in Freiburg der Mindeststandard.

Am Marktplatz stoßen die Gruppen auf das orange gestrichene Bürgerhaus, eine ehemalige Kaserne, die heute Kneipe, Kita, Jugendtreff und Vereinsräume beherbergt. Bis 1992 waren im Vauban französische Soldaten stationiert; als sie abzogen, blieben der Name und etliche Gebäude. Einige wurden von einer Mieterinitiative in Eigenleistung umgebaut und kunterbunt angemalt, mit stilisierten Zwiebeltürmchen-Fassaden oder mit der viel fotografierten Pippi Langstrumpf; hier wohnen viele Alleinerziehende in Wohngemeinschaften. Andere Kasernen dienen als Studentenwohnheime.

Vauban Quartier Vauban
Wie es uns gefällt: Die ehemaligen Kasernengebäude am Eingang des Viertels hat eine Mieterinitiative in Eigenleistung zu günstigem Wohnraum umgebaut.

Weiter hinten hat die „Genova“ vier große Gebäude erstellt. Die Genossenschaft bietet ihren Mitgliedern eine günstige Miete auf Lebenszeit und trägt so zur Mischung der Einkommensschichten im Stadtteil bei. Sozialwohnungen gibt es dagegen nur wenige. Das liegt daran, dass Baden-Württemberg den sozialen Wohnungsbau in der Entstehungszeit des Viertels kaum gefördert hat.

Wie lebt er denn so, der Homo Oecologicus?

Stattdessen vergab das Land Förderkredite für die Bildung von Wohneigentum. So konnten sich Familien mit geringem Einkommen ihren Traum von den eigenen vier Wänden erfüllen. Dabei half auch das Baugruppen-Prinzip, das im Vauban mit entwickelt wurde und längst bundesweit Nachahmer findet. Baugemeinschaften sparen im Vergleich mit Einzelbauherren erhebliche Kosten. Entstanden sind vergleichsweise bescheidene Geschoss- oder Maisonettewohnungen, der Flächenverbrauch sollte sich in Grenzen halten. Dafür haben sich manche Baugruppen gemeinsame Hobbykeller, Dachterrassen oder Gästezimmer geleistet.

Ein weiterer Vorteil des gemeinsamen Bauens: Die künftigen Nachbarn beschnuppern einander bereits beim Planen ausführlich. Die so entstandenen Nachbarschaften gehen vielfach über Zweckgemeinschaften weit hinaus. Im Vauban wachsen viele Kinder quasi in Großfamilien auf. Natürlich gibt es auch den einen oder anderen Konflikt, beispielsweise über den Rauch des Lagerfeuers im Nachbarsgarten oder um jugendliche Bolzer in den Grünanlagen. Doch insgesamt ist das Quartier ausgesprochen stabil, die Fluktuation ist gering.

Vauban
Hohe Wohnqualität: Die Straßen ohne Stellplätze sind Lebensraum für Jung und Alt. Die Bewohner fahren hauptsächlich Fahrrad und Straßenbahn, viele verzichten aufs eigene Auto.

Nicht nur Touristen, auch die überregionale Presse interessiert sich regelmäßig für den Freiburger Modellstadtteil; vor allem, wenn die Grünen hier mal wieder einen Spitzenwert eingefahren haben wie bei der baden-württembergischen Landtagswahl 2011 – 72 Prozent! Wie lebt er denn so, der Homo Oekologicus, fragt man sich dann republikweit.

„Wie Apfelkuchen mit Schlagsahne“

Die auswärtigen Reporter starten ihre Spurensuche mit Vorliebe am Schaufenster von Bennys Backwaren, wo sie eine Reihe esoterisch angehauchter Aushänge entdecken. Sie durchstreifen die Grünzüge zwischen den Wohnblocks und wundern sich ostentativ, wenn sie eine Mac Donald’s-Tüte herumliegen sehen; freuen sich dagegen diebisch, wenn sie in irgendeinem Fenster eine Salzkristall-Leuchte aufspüren – offenbar der Inbegriff des spießigen Eso-Öko-Wohnens.

„Auf der einen Seite wird Vauban in aller Welt als Musterstadt der Zukunft bestaunt“, schrieb Peter Unfried 2011 in der taz. Andererseits gebe es beträchtliche Vorurteile. Der Autor zählt genüsslich auf: „Totalitäre Ökospießer, die Autos verbieten wollen. Besserverdiener. Schlecht angezogene Kampfmütter. Grauhaarige Altlinke, die Pferdeschwänze tragen und auch sonst so sind.“ Und so weiter. Gerne enden die Stadtteil-Portraits mit der Anekdote, die ein Bewohner einst dem Reporter des Berliner Tagesspiegel in den Block diktierte: Steht ein Vaubaner mit einer Zigarette im Garten. Kommt ein anderer vorbei und sagt: „Gehen Sie zum Rauchen gefälligst ins Haus!“  

Auch Freiburger spotten gerne über den grünen Stadtteil im Süden der Stadt. Da mag ein wenig Neid im Spiel sein. Denn vor allem mit Kindern lebt es sich hier geradezu ideal. „Im Vauban zu wohnen ist wie Apfelkuchen mit Sahne“, so formuliert es eine Nachbarin: „Apfelkuchen, weil nah an Freiburgs Innenstadt, nah am herrlichen Grün, tolle Nachbarn und rundum gut versorgt mit Einkaufsmöglichkeiten. Die Sahne ist das Öko im Viertel, das sich automatisch ins Leben schleicht: weniger Auto, weil im Alltag nicht nötig, und mehr Bio einkaufen, weil direkt vor der Haustür.“

Ein bunter Stadtteil voller Pioniergeist

Das Konzept vom Stadtteil der kurzen Wege ist aufgegangen. Auf weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche finden sich Alnatura, REWE und Aldi (in dem einzukaufen keineswegs verpönt ist). Es gibt eine Apotheke, Physiotherapeuten und den Zahnarzt
Dr. Pein. Der Secondhand-Kinderladen heißt „Kleine Hexe“, das Fahrradgeschäft „Radieschen“; auch eine Fahrschule fehlt nicht im autoreduzierten Viertel.

Vauban
All inclusive: Den Quartiersladen mit großem Bio-Angebot hat eine Bewohnerinitiative als Verein aufgezogen. Hier gibt es zur ausgefallenen Kartoffelsorte gleich noch ein schönes Rezept - und einen kurzen Plausch sowieso.

Im Quartiersladen mit großem Bio-Angebot, den eine Bewohner-Initiative aufgezogen hat, hält man gerne ein Schwätzchen und bekommt zur ausgefallenen Kartoffelsorte gleich ein Rezept mitgeliefert. Auch der Markt am Mittwochnachmittag ist ein beliebter Treffpunkt; selten war das Anstehen um ein Bauernbrot so kurzweilig. Und bei der Friseurin, deren Kinder im selben Fußballverein spielen wie die eigenen, trifft man bestimmt eine Bekannte aus dem Tanzkurs. Die Friseurin ist übrigens eine Französin mit afrikanischen Wurzeln und die Tanzlehrerin war die meiste Zeit ihres Lebens ein Mann. Außergewöhnliche Persönlichkeiten, die hier ihr Zuhause gefunden haben.

Jenseits der Klischees ist Vauban ein bunter Stadtteil voller Pioniergeist. Innovative Energiekonzepte gehören fast schon zum guten Ton, aber auch sozial wird hier fröhlich experimentiert. Im gelb getünchten „Sonnenhof“ etwa ist neben Familien auch eine  Demenz-Wohngruppe der Diakonie zu Hause. Ein paar Schritte weiter entsteht das inklusive Wohnprojekt „Vaubanaise“.

Die Kinder werden zum Spielen nach draußen geschickt

Dass das Hotel, das am Eingang des Stadtteils errichtet wird, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung anbieten wird, scheint da nur konsequent. Auch ein Kindergarten und die Grundschule arbeiten integrativ. Den Kindern fällt das gar nicht besonders auf. Der einzige Kommentar, der unserem Sohn über die Kita-Kinder mit Down-Syndrom zu entlocken war: „Die sind halt Geschwister.“ In seinen Augen sahen sie einander einfach nur ähnlich.

Es stimmt, dass die Bewohnerschaft relativ homogen ist. Vauban hat als städtisches Neubaugebiet vor allem junge Familien angezogen, viele Gleichgesinnte in ähnlicher Lebenslage. Das mag man bedauern, aber im Alltag hat es auch Vorteile. Wenn der Nachwuchs zum Beispiel bei Freunden spielt, kann man zuversichtlich sein, dass er auch dort nicht vor dem Computer hockt, sondern zum Spielen nach draußen geschickt wird. Bei Schulfesten und Elternabenden beteiligen sich nicht nur engagierte Mütter, sondern auch viele Väter. Die meisten im Viertel duzen einander, auch wenn sie sich nicht kennen.

Ältere Menschen trifft man im Vauban leider eher selten. Viele, die sich für das Konzept interessierten, schreckte die Vorstellung vom Leben auf der Baustelle. Wer das durchgestanden hat, fühlt sich heute belohnt; wie die 77-Jährige, die mit ihrem Mann aus einem großen einsamen Haus auf der Schwäbischen Alb hierher gezogen ist. „Der Stadtteil ist durch die vielen Kinder so voller Energie“, sagt sie strahlend und freut sich über die lebendige Nachbarschaft.

Ein Glossenschreiber im Ruhestand formuliert es so: „Mir gefällt es im Vauban. Es ist ruhig, liegt nah am Grünen, die Architektur ist interessant, Kinder kreischen, Vögel pfeifen, Hunde scheißen, und dann das Ökologische – alles wunderbar. Wir haben hier gute Nachbarn und Freunde gefunden, da lassen sich die paar spinnerten Esoteriker prima verschmerzen.“

Übrigens: Ich kenne im ganzen Stadtteil niemanden mit einer Salzkristall-Lampe.

 

Erschienen in Publik-Forum 10/2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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