Lampedusa in Hamburg

„Es geht um Werte, die wir alle teilen“

Für Pastor Sieghard Wilm ist es ein „Akt der humanitären Nothilfe“: Seine evangelische Sankt Pauli Kirche hat 80 Flüchtlinge aufgenommen, die sich von Lampedusa nach Hamburg durchgeschlagen haben, und versorgt sie seit Juni mit dem Lebensnotwendigen. Ulrike Schnellbach sprach mit dem Pfarrer über die breite Unterstützung aus der Bevölkerung und die unnachgiebige Haltung des Senats.

Pastor Sieghard Wilm
Pastor Sieghard Wilm – Foto: Lukas Wahl

Herr Wilm, was fordern Sie für die Flüchtlinge?

Ich wünsche mir ein humanitäres Bleiberecht für diese Menschen, die bereits in Afrika zweimal fliehen mussten und dann in Europa herumgeschubst wurden. Viele von ihnen sind traumatisiert, sie haben schreckliche Dinge gesehen, unter anderem havarierte Flüchtlingsschiffe. Nun sollen sie bleiben dürfen, bis ihr Fall politisch auf EU-Ebene geklärt wird. Da tut sich ja im Moment einiges, wenn man zum Beispiel dem Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz, zuhört: Auch er fordert ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik.

Glauben Sie denn, das sind mehr als Worte?

Ich habe die Hoffnung, dass sich wirklich etwas bewegt, aber das kann lange dauern. Das gesunkene Schiff vor Lampedusa wird leider nicht die letzte Katastrophe gewesen sein. Die Toten sind ja auch ein Kalkül, sie dienen der Abschreckung. Aber dadurch wird der Strom an Menschen nicht abreißen, die zu uns fliehen. Wie viele müssen noch sterben, bis wir das begreifen und umsteuern?

Ist bei der Haltung des Hamburger Senats eine Reaktion auf das Schiffsunglück vor Lampedusa zu spüren?

Nein, es gab nicht ein Wort der Betroffenheit. Dabei wäre das ja ein Moment gewesen, in dem der Senat ohne Gesichtsverlust hätte umsteuern können. Aber die verantwortlichen Politiker bringen das gar nicht in Zusammenhang, das erschreckt uns ja so. Die letzten Toten in Lampedusa sind noch nicht bestattet, da werden die Überlebenden hier von der Polizei gehetzt, erkennungsdienstlich behandelt, kriminalisiert. Auch wir Unterstützer stehen öffentlich am Pranger: Uns wird Beihilfe zum illegalen Aufenthalt vorgeworfen.

Die Stadtverwaltung fürchtet, dass sie einen Präzedenzfall schafft, wenn sie diese Flüchtlinge unbürokratisch aufnimmt.

Das ist eine zynische Argumentation: Wir können diesen Menschen nicht helfen, weil sonst andere nachkommen. Wenn man so denkt, kann man gar keine humanitäre Hilfe mehr leisten.

In Berlin-Hellersdorf gab es im Sommer rechtsradikale Proteste gegen eine Gruppe Flüchtlinge unter anderem aus Syrien. Haben Sie so etwas auch erlebt?

Seit der Senat mit einer Razzia reagiert und das Kirchengelände mit Polizei umstellt hat, erreichen meinen Kollegen und mich verstärkt rassistische E-mails und Pöbel-Anrufe. Der Senat bekommt für seine harte Haltung Applaus vom rechten Rand.

Sie erhalten aber auch eine Menge Unterstützung aus der Bevölkerung.

Ja, wir haben einen Unterstützerkreis von 150 Aktiven, darunter viele, die vorher noch nie in der Kirche waren. Sie kochen für 200 Menschen, organisieren eine Kleiderkammer und halten Tag und Nacht Wache. Eltern kommen mit ihren Kindern und spielen Fußball mit den Flüchtlingen, andere machen Musik, eine Nachbarin brachte heute frisch gebackenen Kuchen. Der FC Sankt Pauli hat einen Satz Bettwäsche geschickt und der bekannte Koch Tim Melzer spendet Lebensmittel. Ein Kindergarten kam mit selbst gemalten Bildern vorbei, eine Schulklasse hat eine Unterschriftenliste an den Senat geschickt, damit die Stadt ihre Turnhalle für die Flüchtlinge öffnet. Sogar Polizisten, die tagsüber die Kirche umstellen, kommen nach Feierabend in Zivil hierher und überbringen uns Grüße. Das alles zeigt, wie groß die Solidarität ist. Darin liegt eine Menge Schönheit und Würde, woraus wir viel Kraft schöpfen. Auch die muslimische und die jüdische Gemeinde unterstützen uns. Wir rücken zusammen, weil es um Werte geht, die wir alle teilen.

Wie geht es den Afrikanern, die nun schon so lange auf engstem Raum zusammenleben?

Sie haben sich als Gruppe organisiert, Sprecher gewählt und artikulieren sich politisch. Durch die große Unterstützung aus der Nachbarschaft entsteht sogar eine Art Freude im Lagerleben.

 

Libyen – Lampedusa – Hamburg: Stationen einer langen Flucht

Die Gruppe der Libyen-Flüchtlinge in Hamburg umfasst insgesamt etwa 300 Menschen. Sie leben ohne Aufenthaltsrecht zumeist an geheimen Orten in äußerst prekären Verhältnissen. Da geht es den 80 von ihnen, die ein Obdach in der St. Pauli Kirche gefunden haben, noch vergleichsweise gut. Die meist jungen Männer kommen aus westafrikanischen Ländern wie Mali, Togo oder Niger und waren als Wanderarbeiter nach Libyen migriert. Von dort mussten sie vor dem Bürgerkrieg fliehen. In Italien schickte man sie weiter, nun hoffen sie auf ein Bleiberecht und Arbeit in Deutschland. Momentan verhärten sich die Fronten: Der Senat besteht darauf, dass die Flüchtlinge sich offiziell registrieren lassen. Die Afrikaner und ihre Anwälte befürchten, dass sie dann nach Italien zurückgeschoben werden.

 

 

Erschienen in der Badischen Zeitung am 12. 11. 2013 und in Publik-Forum 20/2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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