„Kitas mit hohem Migrantenanteil brauchen eine außergewöhnlich gute Ausstattung“

Der Kindergarten kann einen wichtigen Beitrag zur Integration von Familien mit Migrationshintergrund leisten. Doch einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge besuchen ausländische Kinder seltener die Kita als ihre deutschen Altersgenossen. Ulrike Schnellbach fragte die Bildungsforscherin Yasemin Karakasoglu nach den Gründen und danach, was Politik und Gesellschaft tun können, um die Integration im Kindergarten zu verbessern.

Yasemin Karakasoglu Bildungsforscherin Yasemin Karakasoglu – Foto: privat

Warum ist es wichtig, dass Kinder aus Migrantenfamilien einen Kindergarten besuchen?

Yasemin Karakasoglu: Aus denselben Gründen wie bei Kindern ohne so genannten Migrationshintergrund: Weil der Kindergarten gezielt bestimmte Aspekte der Entwicklung fördern kann, etwa soziales Verhalten. Auch Sprachförderung ist ein Thema für alle Kinder – deutsche wie ausländische –, in deren Familien nicht die Bildungssprache Deutsch gesprochen wird und die von daher einen Nachteil haben, wenn sie in die Schule kommen und sich nicht elaboriert ausdrücken können. Für die Kinder mit Migrationshintergrund, insbesondere wenn sie wenig Kontakte zu Deutschen haben, ist der Kindergarten zusätzlich eine Chance, in andere Zusammenhänge zu kommen und mehr Deutsch zu hören, zu sprechen, auch andere Verhaltensweisen kennen zu lernen.

Warum besuchen Kinder aus Migrantenfamilien durchschnittlich seltener eine Kita als Kinder aus deutschen Familien?

Karakasoglu: Man muss vorweg sagen: Es geht bei diesem Befund um bildungsferne Familien. Zu den Gründen gibt es keine umfassende repräsentative Untersuchung. Ein Grund dürfte in der Familienstruktur liegen: Kinder mit Migrationshintergrund kommen häufig aus großen Familien, in denen die Mutter nicht berufstätig ist, so dass diese keine Notwendigkeit darin sieht, die Kinder außerhalb betreuen zu lassen. Diese Familien nutzen den Kindergarten oft erst ein Jahr vor Schulbeginn, sozusagen als Vorschule. Das ist aber zu spät für eine ausreichende sprachliche Förderung.

Wie müssen Kitas sein, damit sich Migrantenfamilien angesprochen fühlen?

Karakasoglu: Das Klima im Kindergarten muss von Offenheit geprägt sein. Man muss auf die Eltern zugehen, ihnen die Möglichkeit geben, sich langsam an die Einrichtung zu gewöhnen.  Kindergärten müssen sich zu Familienbildungsstätten entwickeln. Hier kann man Angebote andocken, die diese Familien weiterbringen, etwa Alphabetisierungs- oder Deutschkurse für Mütter, Vorträge über Erziehungsfragen in verschiedenen Sprachen oder in ganz einfachem Deutsch. Man kann die Kingergärten auch öffnen für Feste wie Hochzeiten, so dass sie von der Bevölkerung im direkten Umfeld als ihre Einrichtung auch jenseits des Kindergartenbesuchs angesehen werden.
Ein weiterer Aspekt ist die Zusammensetzung des Personals: Gut ist, wenn die Herkunftssprachen der Familien im Kindergarten repräsentiert sind und dadurch ein unkomplizierter, direkter Kontakt mit den Eltern möglich ist. Die Eltern geben Erzieherinnen mit türkischem, arabischem oder bosnischem Hintergrund einen Vertrauensvorschuss.

Sollte nicht im Kindergarten Deutsch die verbindliche Sprache sein?

Karakasoglu: Von einer Zwangssprache im Kindergarten halte ich nicht viel, weil sie den Kindern den Eindruck vermittelt, dass das, was sie zuhause sprechen und hören, eigentlich verboten ist. Wenn das Schüler, Schulleitung und Eltern in Schulen einvernehmlich vereinbaren, dann ist das etwas anderes als bei kleinen Kindern. Kindergärten haben den pädagogischen Auftrag, an der Lebenswelt der Kinder anzuknüpfen und pfleglich mit ihrer Mehrsprachigkeit umzugehen. Das bedeutet, man muss für die Kinder Anreize schaffen, Deutsch zu sprechen als gemeinsame Sprache, die alle verstehen, aber sollte es ihnen nicht verbieten, mit anderen Kindern in ihrer Herkunftssprache zu sprechen. Und man sollte die natürliche Mehrsprachigkeit der Kinder spielerisch und selbstverständlich in den Kindergartenalltag integrieren, so dass sie eine Bereicherung für alle Kinder darstellen kann.   

Viele Kitas haben kaum Personal mit Migrationshintergrund.

Karakasoglu: Es gibt gewisse Barrieren bei konfessionell gebundenen Einrichtungen – etwa in Bayern und Baden-Württemberg –, solches Personal einzustellen. Die staatlichen Einrichtungen dagegen sehen mehr und mehr ein, dass sie solches Personal brauchen. Denn in Großstädten wie Bremen beispielsweise haben mittlerweile 53 Prozent der Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund.

Der Kita Krozinger Straße in Freiburg gelingt es vorbildlich, Familien mit Migrationshintergrund willkommen zu heißen. Allerdings besuchen kaum deutsche Kinder die Einrichtung. Was kann man dagegen tun?

Karakasoglu: Bei Einrichtungen mit einem hohen Migrantenanteil haben viele deutsche Eltern die Sorge, dass ihre Kinder nicht genügend gefördert werden können. Man kann da gegensteuern, indem man diese Einrichtungen außergewöhnlich gut ausstattet mit Material und pädagogischem Personal. Das ist nicht zum Nulltarif zu haben.

Was kann die Politik tun, damit Kindergärten mehr zur Integration beitragen?

Karakasoglu: Der Kindergarten muss eine Stufe des Bildungssystems werden: Er muss eine Verbindlichkeit bekommen, und die Erzieherinnen und Erzieher müssen eine fundierte, auch akademische Ausbildung erhalten mit entsprechenden Kenntnissen des wichtigen Aspekts, wie Deutschlernen unter Mehrsprachigkeitsbedingungen gelingt. Politisch gehört der Kindergarten dann nicht mehr ins Sozial-, sondern ins Kultusministerium.

Dazu müsste die Kompetenz vom Bund auf die Länder übergehen…

Karakasoglu: …was es wiederum finanziell äußerst schwierig macht.

Sollte der Kindergartenbesuch kostenlos und verpflichtend sein?

Karakasoglu: Kostenlos unbedingt. Bei der Pflicht tue ich mich schwer, weil ich nicht sicher bin, ob man Eltern zwingen kann, schon ihre dreijährigen Kinder in Einrichtungen abzugeben – andere Ländern wie Großbritannien und Frankreich machen das erst ab vier Jahren.

Wie würde sich die so genannte Herdprämie auf Familien mit Migrationshintergrund auswirken?

Karakasoglu: Die Herdprämie ist fatal für den Integrationsprozess, weil sie nicht fördert, dass Institutionen genutzt werden, die Basiskenntnisse für die weitere Bildungslaufbahn vermitteln. Und weil gerade solche Familien diesen finanziellen Anreiz nutzen, deren Kinder es dringend bräuchten, in außerfamiliären Einrichtungen gefördert zu werden. Die Entscheidung für die Herdprämie ist absolut kontraproduktiv.

Yasemin Karakaşoğlu

Die Turkologin Yasemin Karakaşoğlu, Jahrgang 1965, ist Professorin für Interkulturelle Bildung an der Universität Bremen. Sie wuchs in einem deutsch-türkischen Elternhaus in Wilhelmshaven auf. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

 

Erschienen in der Badischen Zeitung am 2. 6. 2010 und in Publik-Forum 18/2010

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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