Inneres Chaos, äußeres Chaos

Elke Schmiedel* ist Messie. Aber das ist nur der sichtbare Teil des Problems

Von Ulrike Schnellbach

Ihre Wohnung ist ordentlich. Im Wohnzimmer zwei rote Sofas, auf einem sitzt ein Teddybär. Auf dem Couchtisch eine Schale mit Papieren, der Esstisch leer. In der Fensterbank blüht eine Orchidee. Aber da, in der Ecke, da hat sie einen Korb mit alten Zeitungen, randvoll. Nicht anders als bei anderen Leuten, aber Elke Schmiedel* bemerkt selbstkritisch: „Die hätte ich längst zum Altpapier bringen sollen!“ In der Küche zeigt sie auf zwei Schuhkartons, „die stehen da seit Wochen“. Und im Schlafzimmer bewahrt sie einige Kisten auf, die sie seit ihrem Umzug vor zwei Jahren nicht ausgepackt hat. „Da muss ich endlich mal ran“, findet sie.

Jetzt, wo sie endlich Ordnung hat in ihren vier Wänden, hat sie einen hohen Anspruch, man kann es auch Perfektionismus nennen. Elke Schmiedel ist Messie. Oder war Messie, so genau lässt sich das nicht sagen. Seit sie eine Therapie macht,  ist vieles besser geworden.

Begonnen hatte es eines Tages ganz unscheinbar. Sie hatte einen Stapel Zeitungen durchgeschaut und ließ ihn auf dem Boden liegen. Einfach so. Wochenlang.

„Ich bin immer daran vorbeigegangen und habe mich gefragt, warum ich die Zeitungen nicht wegräume, aber ich konnte es einfach nicht. Und dann gesellten sich andere Sachen dazu. Abends nach der Arbeit leerte ich meine Tasche einfach aus. Die gewaschene Wäsche schüttete ich aufs Sofa, da blieb sie liegen, zusammen mit der dreckigen. In der Küche türmte sich das schmutzige Geschirr. Ich putzte nur noch das Notwendigste. Ich musste alles suchen: meinen Geldbeutel, den Führerschein, selbst einen Kugelschreiber zu finden war ein Problem.“

„Ich schämte mich zu sehr“

Bis heute klappt Aufräumen nur, wenn sie es systematisch und sofort macht: Wäsche abhängen und gleich bügeln. Geschirr sofort in die Spülmaschine. Vor allem mit dem Putzen hat sie nach wie vor Schwierigkeiten. Auch weil ihr Perfektionismus ihr suggeriert: „Ich kann es gar nicht so gut, wie ich es möchte.“ Nach wie vor rückt manchmal ihre Mutter an, um sauber zu machen.

„Der unerträgliche Zustand meiner Wohnung und die Unfähigkeit, etwas daran zu ändern, wirkten sich auf mein gesamtes Leben aus. Außer in meinem beruflichen Umfeld hatte ich überhaupt keine Kontakte mehr, ich lebte isoliert und entwickelte eine richtige Menschenscheu. Mit der Zeit ließ ich überhaupt niemanden mehr in meine Wohnung, dafür schämte ich mich zu sehr. Wenn sich Handwerker ankündigten, brachte mich das in große Nöte. Meine Mutter kam dann und räumte für mich auf.“

Schon bevor sie Messie wurde, hatte Elke Schmiedel psychische Probleme, eine Essstörung etwa, und sie war fernsehsüchtig. Eines nach dem anderen kommt ans Tageslicht, wenn man sich mit ihr unterhält und genügend Zeit mitbringt. Sie macht einen aufgeräumten Eindruck beim Erzählen, ruhig und konzentriert. Nur manchmal werden ihre Augen feucht.

„Ich habe mir nie etwas zugetraut“

Fing alles mit dem Sitzenbleiben in der Schule an, als sie 15 war, mit den fehlenden Freunden? Vielleicht. Jedenfalls zog sie sich damals zurück, verkroch sich mit Kuchen vor dem Fernseher. „Es ging immer darum, eine Leere in mir zu stopfen“, glaubt die 42-Jährige rückblickend. Das Essen hat sie seit einiger Zeit unter Kontrolle. Erst kürzlich hat sie es geschafft, den Fernseher für vier Wochen ausgeschaltet zu lassen. Dabei hat sie eine neue Erfahrung gemacht: „Ich kann lesen, ein Hörspiel hören, einen Brief schreiben, einfach nur dasitzen. Das geht alles!“ Sie sieht richtig glücklich aus, als sie das sagt.

„Ich habe es immer irgendwie geschafft zu arbeiten. Aber ich habe mir nie etwas zugetraut. Ich habe meine Ausbildung als Bürokauffrau nicht abgeschlossen, weil ich einfach nicht lernen konnte. Ich saß stundenlang vor den Büchern und habe es nicht geschafft, eine Mathematikaufgabe anzugehen. Ein Teil des Messie-Syndroms ist auch, dass ich schwierige Dinge bei der Arbeit vor mir herschob. Das fiel auch auf. Zum Glück weiß meine Vorgesetzte inzwischen alles und hilft mir.“

Jahrelang sprach Elke Schmiedel mit niemandem über ihre Probleme, nur ihre Eltern wussten davon. Immer mal wieder machte sie einen Anlauf und ging zu einem Psychologen oder zu einer Selbsthilfegruppe. Aber wenn ihr dann jemand erklären wollte, wie man Ordnung schafft, wehrte sich alles in ihr: „Das kann’s nicht sein, das ist keine Problemlösung!“ Erst als sie den Vortrag einer Messie-Expertin hörte, schöpfte sie Hoffnung.

„Ich spürte bei ihr ein tiefes Verstehen, dass es nicht um Faulheit geht, sondern dass etwas Tieferes zugrunde liegt. Dieses Verständnis hat mich sehr berührt. Seit anderthalb Jahren mache ich nun bei dieser Frau eine Therapie und erlebe, wie befreiend es ist, über meine Situation zu sprechen. Nach und nach lösen sich die Messie-Symptome wie von selbst auf, ohne dass ich direkt daran arbeite. Dadurch habe ich erkannt, dass die Messie-Phänomene nur Folgen anderer Probleme sind, zum Beispiel einer versteckten Depression, die inzwischen auch medikamentös behandelt wird. Meine starke Neurodermitis war nach einem halben Jahr Therapie einfach verschwunden.

„So langsam fängt mein Leben an“

Einmal sollte Elke Schmiedel in der Therapie mit ein paar Gegenständen Chaos und Ordnung kreieren und darüber sprechen. Natürlich gefiel ihr die Ordnung besser, erinnert sie sich. Aber dabei habe sie gemerkt, dass sie sich weniger einsam fühlte, wenn sie viele Sachen um sich herum hatte. „Das ist es“, erkannte Elke Schmiedel, „ich habe mit dem Messie-Syndrom meine Einsamkeit überdeckt.“ Mittlerweile sieht sie es als den äußeren Ausdruck ihres inneren Chaos. „Indem ich die Probleme nach und nach angehe, brauche ich die Messie-Thematik nicht mehr.“

Elke Schmiedel lebt alleine, sie hatte nie einen Partner, ihre engste Bezugsperson ist bis heute ihre Mutter. Jetzt arbeitet die 42-jährige Tochter daran sich zu lösen. Wenn ihre Mutter fragt, ob sie zum Putzen kommen soll, sagt Elke Schmiedel jetzt manchmal: „Nein danke, ich schaffe es alleine.“ Und das ist jedes Mal ein Triumph. Es macht ihr neuerdings Freude, ihre Wohnung schön zu gestalten und sich damit etwas Gutes zu tun.

„Manches fällt mir noch immer schwer, ich brauche viel Rückzug, aber so langsam fängt das Leben an: Ich mache Sport, gehe in Ausstellungen und Konzerte, treffe mich mit Leuten und merke, dass mir das gut tut. Ich war sogar ein paar Tage mit einer Kollegin in Rom. Viele Menschen sagen mir, dass ich lebensfroher und offener geworden bin. Manchmal kann ich es gar nicht fassen: Ich hätte mir ja nicht träumen lassen, dass ein anderes Leben für mich möglich ist!“

*Name geändert

Erschienen in Publik-Forum 23/2010

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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