„Ich wollte zuhören, nicht psychologisieren“

Katharina Gruber hat einen Film über Dicksein und Abnehmen gedreht, in dem es um ganz verschiedene „Körpergeschichten“ geht

Ein Allerweltsthema, aber ein ungewöhnlicher Ansatz: Die Freiburger Filmemacherin Katharina Gruber (44) hat einen Film mit übergewichtigen Frauen gedreht, die bis zu 60 Kilo abgenommen haben. Es geht darin jedoch nicht um Diäten oder dergleichen, sondern darum, wie sich die Frauen mit ihrem Körper fühlen – und nicht zuletzt  darum, welche Schwierigkeiten die Umstellung mit sich bringen kann. Was sie selbst bei den Dreharbeiten lernte, erzählte sie Ulrike Schnellbach.

Katharina Gruber
Katharina Gruber – Foto: Ulrike Schnellbach

Sie sind ausgesprochen zierlich – wie kamen Sie darauf, einen Film über dicke Frauen zu drehen?

Katharina Gruber: Der Film ist aus einer zufälligen Begegnung mit einer der Protagonistinnen entstanden, die ich seit langem vom Sehen kannte. Für mich war das einfach so: Sie ist dick und groß und ich bin klein und dünn. Dann hatte sie plötzlich 45 Kilo abgenommen und ich fragte sie, wie sich das anfühlt. Was sie daraufhin erzählte, war so spannend, dass ich dachte, darüber sollte man einen Film machen. 14 Tage später haben wir mit den Dreharbeiten begonnen.

Hat das Thema auch etwas mit Ihnen selbst zu tun?

Gruber: Anfangs waren die Dreharbeiten als Gespräche zweier Frauen mit völlig unterschiedlichen Körpererfahrungen angelegt: Ich, knapp über 1,50 Meter groß und 45 Kilo leicht, und sie mit ihrer Körperfülle. Das Erstaunliche war zu entdecken, dass wir ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Sie sagte zum Beispiel, sie hätte ein „Ehrgefühl des Andersseins“ entwickelt: Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme und war dick, und man erwartete von ihr, dass sie sich deshalb zurücknimmt. Sie hatte das Gefühl, gerade deshalb besonders kraftvoll und forsch auftreten zu müssen. Dieselbe Erfahrung habe ich als kleine Frau auch gemacht.

„Vier Frauen, vier Wege“: Der Untertitel deutet an, dass die Protagonistinnen mit dem Thema ganz unterschiedlich umgehen. Worin liegen die Unterschiede?

Gruber: Es gibt die Gemeinsamkeit, dass es bei allen einen richtigen Zeitpunkt gab für die Entscheidung, abzunehmen. Übereinstimmend sagen auch alle vier Frauen, der Genuss am Essen sei dadurch nicht geringer geworden.
Der Unterschied ist, dass es bei zweien schlicht um das Thema Abnehmen ging, während bei den anderen beiden durch die körperliche Veränderung innere Prozesse in den Vordergrund gerieten. Während eine Frau das Abnehmen und das Ergebnis uneingeschränkt gut fand, brachte es für eine andere auch unangenehme Erfahrungen mit sich. Bei einer der Frauen war das Abnehmen zu Beginn der Dreharbeiten ein wichtiges Thema. Im Lauf der Zeit ging es aber mehr um ganz andere Themen, wie Verlust, Missbrauchserfahrungen und Depression. Eine Frau verband mit  ihrem Gewicht keinerlei innere Ursachen. Sie erlebte den Prozess des Abnehmens wie eine spannende Forschungsreise, bei der sie sich selbst mit großer Neugier beobachtete. Sie nahm in wenigen Wochen 20 Kilo ab, brauchte aber etwa ein Jahr, bis ihre Vorstellung von sich selbst und ihr Körper wieder übereinstimmten.

Hat sich Ihr Bild von dicken Menschen durch die Dreharbeiten verändert?

Gruber: Nicht so sehr mein eigenes Bild, sondern meine Wahrnehmung dafür, in was für einer Welt Menschen leben, deren Körper nicht den hiesigen Normen entspricht, mit welchen Klischees sie konfrontiert sind und wie groß die gesellschaftliche Abwertung und Missachtung ist. Wenn ich von dem Film erzählt habe, sind Vorurteile ans Tageslicht gekommen, mit denen ich nie gerechnet hätte. Nicht wenige Menschen glauben, Dicke hätten keinen anderen Wunsch als abzunehmen.
Was ich selbst während der Interviews erfahren habe, ist dass es auch Vorteile und  einen eigenen Wert haben kann, dicker zu sein. Es kann zum Beispiel eine kraftvollere körperliche Präsenz ermöglichen.

Sie lassen im Film ausschließlich die Frauen erzählen und enthalten sich jeder Analyse. Warum?

Gruber: Wenn ich zusammenfassen oder erklären würde, würde ich den einzelnen Lebensgeschichten in ihrer Vielschichtigkeit nicht gerecht werden. Es geht mir um eine andere Art von Begreifen. Ich versuche keine Eindeutigkeiten zu formulieren, keinen klaren Schluss zu finden. Ich wollte bewusst nicht psychologisieren, ich wollte zuhören. Diese Offenheit hat für mich etwas mit Leben, mit Lebendigkeit zu tun.

Es gab bereits eine Vorpremiere, damit die Protagonistinnen die Resonanz erleben konnten, um daraufhin endgültig zu entscheiden, ob der Film für sie stimmig ist. Wie waren die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer nach der Vorführung?

Gruber: Ehrlich gesagt, ich war richtig beglückt von den Reaktionen. Viele Frauen haben gesagt, sie wollen den Film mit Freundinnen noch einmal anschauen und darüber sprechen. Genau das war meine Intention, dass der Film Gespräche auslöst. Viele haben auch gesagt, dass das gar kein Film über Dicksein und Abnehmen sei, sondern vielmehr darüber, was körperliche Erfahrungen mit uns machen. Auch von Männern habe ich erstaunlich positive Reaktionen bekommen. Manche meinten, sie denken jetzt ganz anders darüber nach, wann sie wie und warum essen. Andere sagten, sie hätten Frauen noch nie so reden hören wie in dem Film. Die Betreiber des Kinos fanden, sie hätten selten einen Film gesehen, in dem Schmerz und Humor so dicht und stimmig beieinender liegen. Nur ein Mann reagierte richtig dumm, er sagte: „Da sieht man es mal wieder, dass Frauen schöner sind, wenn sie schlanker sind.“ Das war sein plattes Fazit aus dem Film.

Wie war es für die Protagonistinnen, sich auf der Leinwand zu sehen?

Gruber: Eine hat gesagt, dass es für sie ganz wichtig war, mit dem Thema nach außen zu gehen und dadurch zu klären: Nicht ich selbst habe etwas falsch gemacht und muss mich schämen, sondern der Auslöser war Missbrauch. Eine war einfach stolz, dass sie es geschafft hat, mit fast 60 Jahren noch 60 Kilo abzunehmen. Sie freut sich, dass sie mit dem Film anderen Mut machen kann. 

Erschienen in der Badischen Zeitung, 7. November 2011

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

Weitere Informationen: www.lebenskuenstlerinnen.de

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