„Ich will lernen, weil ich lernen möchte – nicht weil ich es muss“

Alia Ciobanu hat sich nach der 11. Klasse von der Schule abgemeldet und dem Verein methodos angeschlossen, um zusammen mit Gleichgesinnten in Eigenregie aufs Abitur zu lernen. Mit Ulrike Schnellbach sprach die 21-jährige Freiburgerin über den Umgang mit der neuen Freiheit, die überraschende Freude am Lernen, Konflikte in der Gruppe und die Schwierigkeit, einen Lehrer zu entlassen.

Alia Ciobanu 
Alia Ciobanu – Foto: privat

Sie haben 2011 nach zwei Jahren Vorbereitung mit methodos Abi gemacht – würden Sie es heute noch einmal so machen?

Ja, sofort. Das war eine sehr intensive, reichhaltige Zeit, ich habe unglaublich viel gelernt und vor allem Freude am Lernen gefunden.

Worin sehen Sie die Vorteile gegenüber dem Schul-Abitur?

Es ist ein ganz anderes Lernen: Ich habe viel, viel mehr gelernt als den Schulstoff – alles, was man unter sozialen Kompetenzen versteht –, vor allem durch die Konflikte und die Reflektionen in der Gruppe. Außerdem habe ich durch die methodos-Erfahrung heute eine ganz andere Haltung, bin viel kritischer, kann mir schneller eine klare Meinung bilden. Andererseits fällt es mir unheimlich schwer, Verantwortung abzugeben und Strukturen hinzunehmen, die ich nicht sinnvoll finde, wie jetzt an der Uni. Positiv bei methodos ist auch das andere Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Wie wirkt es sich auf das Verhältnis aus, wenn Schüler ihre Lehrer selbst einstellen?

Man begegnet sich auf Augenhöhe. Man begegnet sich überhaupt! Die Schüler sind verantwortlich dafür, welche Lehrer sie haben. Das heißt auch, es gibt keine ‚blöden Lehrer’. Auch die Lehrer nehmen bei methodos eine andere Rolle ein als in der Schule. Sie haben keine Machtposition, sie vergeben keine Noten. Die Schüler sind selbst für ihr Lernen verantwortlich und die Lehrer unterstützen sie dabei.

Sind die Lehrer besondere Persönlichkeiten?

Es sind ganz unterschiedliche Typen, aber alle waren sie mir als Mensch unglaubliche Vorbilder. Besonders ist ihre Bereitschaft, alte Muster abzulegen, selbst etwas zu lernen und sich auf Neues einzulassen. Die Lehrer bei methodos sind sehr flexibel und stellen sich auf die Schüler ein.

Gab es Lehrer, die aufgehört haben oder von den Schülern weggeschickt wurden?

Ja, beides kam vor. Meist lag es daran, dass es in der Kommunikation gestockt hat und man sich nicht einigen konnte, wie man den Unterricht gestalten wollte. Wobei das gar nicht so lustig ist, einen Lehrer rauszuschmeißen, wie man sich das als Schüler vielleicht vorstellt. Man hat ja eine persönliche, menschliche Beziehung zu den Lehrern aufgebaut, man hat sie selbst angefragt, da fällt es nicht leicht, Kritik zu üben und zu sagen, dass man nicht weiter zusammen arbeiten kann. Wenn es darum ging, einem Lehrer das mitzuteilen, haben sich alle bei uns gerne gedrückt. 

Die meisten methodos-Schüler kommen wie Sie von einer Waldorfschule oder von einer Freien Schule – die verbindet man gerade nicht mit dem „verkrusteten Schulsystem“, das Sie in Ihrem Buch kritisieren. Wie kommt es, dass gerade diese Schüler sich für den Ausstieg entscheiden?

Auf der Waldorfschule lernt man eine kritische Haltung und den Mut, Dinge anders anzugehen. Aber in der Oberstufe lief es bei uns wahrscheinlich schlimmer als am Gymnasium: verkrustete Strukturen, Schulverweise als Druckmittel, ein schräges Schüler-Lehrer-Verhältnis. Wir Schüler wurden mit unseren Anliegen einfach nicht ernst genommen. Aus der Kritik daran ist methodos entstanden – und aus der Idee heraus, Schule anders zu machen. Die Schüler aus Freien Schulen wechseln aus einem anderen Grund zu methodos: Sie wollen so frei weiterlernen, wie sie es gewohnt sind. Die Freien Schulen im Freiburger Raum haben keine Oberstufe.  

Alia Ciobanu 
Alia Ciobanu büffelte in Eigenregie - und fand dabei ihren eigenen Lernweg – Foto: Methodos

Muss man für das eigenständige Lernen ein bestimmter Typ sein oder würden Sie das jedem Schüler empfehlen?

Ich höre oft: „Für mich wäre das nichts.“ Und bestimmt ist das Gymnasium der bequemere Weg. Bei methodos steckt viel Arbeit und Einsatz drin, dazu muss man bereit sein. Aber wenn der Wille da ist, eignet es sich für jeden. Allerdings fällt es nicht jedem leicht, sich in der Freiheit zurechtzufinden. Ich zum Beispiel habe lange gebraucht, damit umzugehen und mich zu orientieren. Genau das war aber wichtig für mich: meinen eigenen Lernweg kennen zu lernen, nach meinen Werten und vielleicht ein Stück weit nach mir selbst zu suchen.

Das methodos-Prinzip besteht darin, dass es kein Konzept gibt und sich alles im Prozess entwickelt. Ist das nicht furchtbar zeitaufwändig?

Doch, vor allem weil zum Lernen noch viel Organisation dazukommt, zum Beispiel das Einwerben von Sponsorengeldern, die Öffentlichkeitsarbeit und so weiter. Und die Gruppenprozesse, auf die wir Wert gelegt haben. Am Anfang waren die Diskussionen sehr langwierig, aber super spannend: Jeder wurde angehört, man versuchte immer einen Konsens zu finden. So eine Gesprächskultur kannte ich aus der Schule gar nicht, sie war mit ein Grund dafür, dass ich  mich für methodos entschieden habe. Je länger wir uns kannten, desto schneller gingen die Entscheidungsprozesse.

Wie viel Zeit beansprucht das eigentliche Lernen?

Das ‚Lernen lernen’ hat viel Zeit gebraucht. Außerdem hatten wir keine vorgegebenen Arbeitsblätter, sondern haben unsere Materialien selbst zusammengesucht. Im Gegenzug verschwendet man keine Zeit auf Unterrichtsstunden, die einen nicht interessieren. Im zweiten Jahr habe ich täglich acht Stunden und zum Teil auch die Wochenenden mit methodos verbracht, im ersten Jahr nicht ganz so viel.

Haben Sie mal mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeißen?

Am methodos-Prinzip habe ich im Grunde nie gezweifelt, nur daran, ob ich tatsächlich das Abitur machen wollte. Denn das war ein gewisser Widerspruch: Obwohl wir jetzt wussten, wie und was wir lieber lernen würden, mussten wir zumindest zum Ende hin doch die Fakten büffeln. Oft war der Stoff eigentlich spannend. Dann wären wir gerne in die Tiefe gegangen, um die Prozesse wirklich zu verstehen. Dafür war aber keine Zeit, stattdessen mussten wir Namen von Enzymen auswendig lernen oder Jahreszahlen für Geschichte.

Nicht alle, die zu methodos gewechselt sind, haben bis zum Abi durchgehalten – warum?

Insgesamt sind bis heute vier oder fünf Leute abgesprungen, etwa einer pro Jahrgang. Zum Teil aus persönlichen Gründen, teilweise auch, weil die freie Form für sie eine Überforderung bedeutete. Einer macht jetzt ein Bundesfreiwilligenjahr, einer eine Ausbildung, von den anderen weiß ich’s nicht. Niemand ging zurück in die Schule.

Methodos Gruppe 
Ein Methodos-Jahrgang hat ganz schön was zu stemmen. In der Mitte: Alia Ciobanu – Foto: methodos

Wie geht es Ihnen jetzt an der Uni?

Das Bachelor-Studium ist ziemlich verschult, man wird an die Hand genommen und hat einen Studienverlaufsplan – ich glaube, ich bin die Einzige, die sich im ersten Semester nicht daran gehalten hat. Die Haltung gegenüber den Studierenden gefällt mir nicht: Man geht nicht davon aus, dass die Studenten lernen wollen. Das drückt sich zum Beispiel in der Anwesenheitspflicht aus. Da regt sich bei mir schon Widerstand, weil mir nicht zugetraut wird, das selbst zu entscheiden. Ich will lernen, weil ich lernen möchte, und nicht weil ich irgendwelche ECTS-Punkte brauche oder der Prof etwas verlangt. Aber ich merke, dass ich das nicht immer umsetzen kann, das ist eine krasse Erfahrung: dass ich dann doch bis nachts um 3 Uhr am Schreibtisch sitze, nicht weil ich selbst das so will, sondern weil ich mich vorbereiten muss; und dass ich in Seminaren sitze, weil ich es muss, nicht weil es mich interessiert.

Wollen Sie das Studium trotzdem durchziehen?

Ich werde mich wahrscheinlich bald exmatrikulieren: Ich habe mich mit ein paar Leute zusammengetan, mit denen ich versuchen will eine Art alternative Universität aufzubauen. Ich möchte weiter so frei lernen können, wie ich es bei methodos angefangen habe – mit dem Unterschied, dass ich jetzt auch den Inhalt selbst bestimmen kann. Was mich wirklich interessiert sind nicht einzelne Fächer, sondern die Zusammenhänge, verschiedene Perspektiven auf eine Frage und fächerübergreifende Lösungen. Das finde ich an der herkömmlichen Universität nur sehr vereinzelt.

 

Methodos wurde 2007 von Freiburger Schülern und Lehrern gegründet mit dem Ziel, verkrustete Schulstrukturen aufzubrechen und das Schüler-Lehrer-Verhältnis auf den Kopf zu stellen. Die Schülerinnen und Schüler melden sich von ihren Schulen ab und bereiten sich in Eigenregie aufs Abitur vor. Sie lernen zum Teil gemeinsam, zum Teil alleine, stundenweise mit Fachlehrern und -lehrerinnen, die sie auf Honorarbasis beschäftigen. Die Kosten für Lehrer, Raum und Materialien belaufen sich auf rund 20.000 Euro pro Jahr bei etwa zehn Schülern. Das Geld wird durch Elternbeiträge und Spenden aufgebracht, die die Schüler selbst einwerben.
Seit 2007 haben um die 30 Schülerinnen und Schüler mit methodos ihr Abitur gemacht. Manche nehmen sich zwei Jahre Zeit für die Vorbereitung, manche nur ein Jahr. Sie orientieren sich am Lehrplan für die Oberstufe. Am Ende legen sie an einem Gymnasium die „Prüfung für Schulfremde“ ab: vier Klausuren und acht mündliche Prüfungen. Dass die methodos-Schüler in mehr Fächern geprüft werden als reguläre Gymnasiasten, wird damit begründet, dass sie keine Eingangsnoten aus der Oberstufe mitbringen, die sonst zum Abitur zählen.
Mittlerweile gibt es erste Nachahmer: An einer Freien Schule im Elztal nördlich Freiburgs hat sich „AbiPlus“ gegründet, das einen ähnlichen Weg geht. Weitere Initiativen gibt es in Berlin, Bremen und Schwäbisch Hall.

Alia Ciobanu (21) kam von der Waldorfschule und gehörte zum dritten methodos-Jahrgang. 2011 bestand sie das Abi mit einem Notenschnitt von 1,7. Inzwischen studiert sie Philosophie und Germanistik in Freiburg und hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben: Revolution im Klassenzimmer. Wenn Schüler ihre eigene Schule gründen.
Verlag Herder, Freiburg 2012. 176 Seiten, 16,99 Euro.

 

Erschienen in Publik-Forum Leben, Juni 2013

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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