„Ich will gar nicht jammern“

Ein Leben voller Rückschläge. Und doch rappelt sich Renate Wehrle immer wieder auf – zuletzt mit einem Hartz-IV-Job

Renate Wehrle Renate Wehrle – Foto: Ulrike Schnellbach

Sie erscheint, grüßt freundlich und entschuldigt sich sogleich wieder. „Ich muss mich schnell noch umziehen, ich bin ganz dreckig.“ Kurz darauf steht sie wieder da, streicht mehrfach das leuchtend rote Poloshirt glatt. „Unsere neue Arbeitskleidung, darf ich heute schon mal anziehen“, sagt sie stolz und schiebt mit einer eleganten Bewegung beider Ringfinger das kurze graue Haar hinter die Ohren. Schmal ist sie, klein, fast zerbrechlich. Große graugrüne Augen in einem blassen Gesicht, eines hat einen Stich ins Braune. An den Ohren trägt sie silberne Ginko-Blätter, an den Fingern große Ringe, auch einen am Daumen. Renate Wehrle, 48, Hartz-IV-Empfängerin, arbeitet in dem Second-Hand-Kaufhaus „Fairkauf“ des Caritasverbandes in Freiburg. 20 Stunden die Woche, zwei Euro Stundenlohn.

Protokoll von Ulrike Schnellbach

„Man jammert ja immer, dass man mit Hartz IV zu wenig Geld hat. Aber was ich hier bekommen habe, ist Selbstvertrauen. Ich habe mir wenig zugetraut, weil ich lange nicht gearbeitet hatte. Hier haben sie mir hier viel zugetraut, dadurch habe ich eine Wertschätzung erfahren. Und mein Tag ist wieder strukturiert. Ich sage immer, meine Arbeit ist meine Tankstelle. Zuhause lief alles schief: Mein Mann, ein Libanese, verschwand monatelang in den Libanon. Dann weinte mein Sohn: „Wo ist Papa?“

Plötzlich tauchten 6000 Euro Schulden auf. Und es kamen andauernd Mahnungen, es war die Hölle. Ende August wurden wir geschieden, nach acht Jahren. Mein Mann ist ausgezogen, und ich habe lauter Kisten in der Wohnung, weil wir innerhalb der Wohnung umziehen. Mein Kind geht jetzt in die Schule. Alles ist neu. Ich bin eigentlich ganz schön am Ende. Die Arbeit war die ganze Zeit das einzige Stetige, was ich hatte, hier tanke ich auf.

Ich habe in meinem Leben viele Höhen, aber auch sehr viele Tiefen hinter mir. Manche Freunde sagen, es sei erstaunlich, dass ich überhaupt noch lebe. Ich bin magersüchtig. Ich hatte eine schwere Kindheit. Meine Eltern konnten mich nicht nehmen, ich bin bei verschiedenen Verwandten und Pflegefamilien aufgewachsen. Ich dachte immer, mich will keiner. Wenn ich dünn bin, dann wird das besser. Mit 16 wog ich noch 20 Kilo.

Ich bin im Grunde ein sehr optimistischer Mensch. Aber immer wenn es bergauf ging, kam ein Rückschlag. Zum Beispiel eine Vergewaltigung. In meiner eigenen Wohnung. Oder der Selbstmord einer Freundin.

Für mein Kind es sich gelohnt weiterzuleben

Ich hatte zuerst eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht. Aber das gefiel mir nicht. Mit Mitte 30 machte ich, gegen viele Einwände, meine Wunschausbildung und lernte Erzieherin. Als ich dann den Mann meines Lebens kennen lernte, wusste ich: Ich muss etwas ändern. Ich ging in eine Klinik und nahm zwölf Kilo zu. Nach einem Jahr verunglückte mein Freund tödlich.

Ich dachte, es gibt mir niemand eine Chance, dass ich mal einigermaßen zufrieden und glücklich leben kann. Ich wollte nicht mehr leben. Ich stieg auf einen Turm, um mich herum waren lauter Kinder, da hatte ich das Gefühl: „Das isses nicht. Ich muss noch etwas erledigen.“ Also stieg ich wieder herunter.

Ich bekam eine Schwangerschaftsvertretung in einem Kindergarten. Ich lernte meinen späteren Mann kennen. Ich wurde schwanger und bekam mit 42 meinen Sohn. Das war ein Glücksfall, dafür hat es sich noch mal gelohnt weiterzuleben. Allerdings wurde mit der Geburt des Kindes die Beziehung schwierig. Mein Mann war nie da, er hat mich hängen lassen, wir haben mehr gestritten als sonst etwas. Er wurde auch handgreiflich. Ich war eigentlich immer allein erziehend, und ich war arbeitslos. Ich ging noch mal in eine Klinik und machte eine Therapie.

Weil ich psychisch nicht sehr belastbar war, konnte ich nicht im Kindergarten arbeiten – ich hatte zu viele Probleme in meiner eigenen Familie, das ist den Kindern nicht zumutbar. Als mich mein Arbeitsberater fragte, ob ich auch einen Hartz-IV-Job machen würde, sagte ich ja, ich wollte einfach arbeiten. So kam ich zu Fairkauf. Sie schickten mich in den Keller. Das ist da, wo alle Spenden ankommen. Ich sollte die Kisten auspacken und die Sachen sortieren. Das war’s für mich! Es ist zwar eine dreckige Arbeit, aber das ist mir egal. Ich habe richtig Ordnung in den Keller gebracht.

Wenn Spielzeug kaputt geht, repariere ich es mit meinem Sohn

Ich weiß gar nicht, wie viel Geld ich im Monat zur Verfügung habe. Ich bin nicht gut mit Geldsachen. Aber irgendwie komme ich immer hin. Man kauft halt alles billig, ich arbeite ja hier im Second-Hand-Kaufhaus, daher habe ich meine Möbel, meine Kleidung, und auch ein sehr schönes Geschirr. Man darf sich eben nicht zu schade sein für gebrauchte Sachen. Sogar den Schulranzen für meinen Sohn habe ich hier gefunden, ein Modell für 120 Euro, ich habe 2,50 Euro dafür bezahlt. Mein Kind findet ihn wunderbar.

Beim Essen bin ich nicht so sparsam. Weil ich mit dem Essen ein Problem habe, achte ich besonders darauf. Obst und Gemüse kaufe ich auf dem Markt, und wir essen viel Fisch. Ich mache vieles selbst: Ketchup, Essiggurken, Brot, Nudeln, da kann man sparen. Und aus Resten mache ich auch noch was. Wir gehen nie Essen, Wurst gibt es bei uns nicht, Chips auch nicht.

Ich lege Wert auf gutes Spielzeug. Wenn das kaputt geht, reparieren wir es zusammen. Ich kaufe für meinen Sohn auch gute Schuhe im Fachgeschäft. Aber es können halt nicht die mit der hypermodernen Sohle sein, da ist er manchmal schon sauer, aber das muss man aushalten. Ich diskutiere das mit ihm aus, ich finde, das gibt der Beziehung auch eine Tiefe. 

Ich habe kein Luxusleben, aber ich bin zufrieden

Eigentlich möchte ich gar nicht jammern. Klar, ich kann nicht in den Urlaub fahren, das würde ich mit meinem Kind schon gern mal. Leider kann ich auch meine Freunde nicht besuchen, die anderswo in Deutschland leben. Ich telefoniere wenig. Ich habe kein Auto. Ich kaufe mir wenig neue Sachen. Alle zwei Monate gehe ich für zwölf Euro zum Friseur. Wenn ich krank bin, gehe ich lange nicht zum Arzt – da spare ich. Es ist schon anstrengend, ich muss immer sehen, wie es geht, und ob ich diesen Fisch noch kaufen kann.

Ich habe kein Luxusleben, aber ich bin gar nicht unzufrieden. Man darf nicht immer gucken, was man alles haben könnte, wie schön es jetzt zum Beispiel auf Mallorca wäre. Sondern man muss sehen, wie schön das Wetter heute ist und dass Radfahren auch etwas Tolles ist.

Im August lief meine Arbeitsmaßnahme hier aus, da war alles zu Ende: die Arbeit, die Ehe, ich hatte keine Perspektive. Da hatte ich wundersamerweise zum ersten Mal in meinem Leben eine gute Sachbearbeiterin im Arbeitsamt, die hat gesehen, dass es bei mir bergauf geht, und sie hat die Maßnahme bis Dezember verlängert. Danach bekomme ich sogar einen Jahresvertrag mit Sozialversicherung. Ja, und dann muss ich irgendwie den Absprung schaffen. Zurzeit wundere ich mich, wie viel Glück ich habe. Aber ich warte jederzeit auf den Nackenschlag.“

 

Erschienen in Publik-Forum 1/2007

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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