Gesines letzter Wille

Mit einem Film über den Krebstod ihrer Freundin wollen die Dokumentarfilmerinnen Katharina Gruber und Gisela Tuchtenhagen zu einem selbstbestimmten Umgang mit dem Sterben ermutigen

Von Ulrike Schnellbach

Bilder die bleiben - Ein Dokumentarfilm über Abschied und Tod Filmplakat

„Dies ist Gesine Meerweins Film“, sagt Gisela Tuchtenhagen bescheiden, wenn sie eine der Filmvorführungen einleitet. Dabei hat Tuchtenhagen, mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilmerin aus Hamburg, bei dem Film die Kamera geführt. Regisseurin ist die Freiburger Dokumentarfilmerin Katharina Gruber, die beste Freundin von Gesine Meerwein. Drei Frauen, ein Projekt. Doch tatsächlich ist der Film „Bilder, die bleiben“ am meisten Gesine Meerweins Werk. Sie wusste, dass sie ihn nie würde sehen können.

Gesine Meerwein, geboren 1959, gestorben an Gebärmutterkrebs am 7. April 2005. Zusammen mit Katharina Gruber hat sie die Idee entwickelt, einen Film über das Sterben zu drehen, an ihrem eigenen Beispiel. Die Arbeit sollte ihren letzten Lebensmonaten eine zusätzliche Bedeutung verleihen. „Wir danken Gesine, die uns diesen Film anvertraut hat“, sagt Katharina Gruber. „Das ist wie ein Geschenk.“

Der Film beginnt ohne Umschweife. Eine kranke Frau im Bett, alterslos: Gesine Meerwein kurz vor ihrem Tod. Sie hat schreckliche Wochen hinter sich voller Schmerzen, in der Klinik, schließlich im Hospiz. Und Jahre des Wartens auf den Tod. Aber in diesem Moment wirkt sie fast heiter. „Es ist okay mit dem Sterben“, sagt sie ganz ruhig in die Kamera, „ich hatte nie Angst davor.“ Es ist wie ein Motto zu diesem ungewöhnlichen Film.

Natürlich ist es ein trauriger Film, aber nicht nur. Es ist auch ein tröstlicher Film, ein Film, der Mut macht zu einem bewussten, selbstbestimmten Umgang mit dem Sterben. Denn er zeigt, wie Gesine Meerwein sich darauf vorbereitet hat und wie ihre Familie, ihre Freundinnen und Freunde sich verabschiedet haben: in einem intensiven Prozess, der lange vor dem Tod einsetzte und damit noch nicht endete.

„Den letzten Geburtstag haben wir drei mal gefeiert“

Todtraurige Szenen: Vater und Mutter, wie sie ihre sterbende Tochter küssen. Danach von hinten, sich aneinender haltend. Schließlich am Grab, schluchzend. Oder der ältere Bruder beim Versuch, am Sarg Saxophon zu spielen. Tröstliche Szenen: Der ehemalige Freund Gesines, mit dem sie 17 Jahre zusammen lebte, am Krankenbett; offene Worte, eine ruhige Versöhnung. Die Freundinnen, die Gesine an einem Sonnentag auf den Balkon setzen, wie sie die Wärme genießt, ihren letzten Frühling.

Stellenweise ist es sogar ein leichter Film geworden. „Den letzten Geburtstag, zu dem unbedingt alle Freundinnen kommen müssen, haben wir drei mal gefeiert“, sagt Katharina Grubers Stimme aus dem Off, und es klingt, als würde sie bei der Erinnerung ein bisschen grinsen, „den letzten Toskana-Urlaub haben wir viermal gemacht.“ Zwischen der Diagnose „schnell wachsende Metastasen“ und dem Tod lagen vier Jahre, in denen Gesine ständig damit rechnen musste zu sterben.

Mal ging es ihr elend, Schmerzschübe, Erbrechen, Krankenhaus. Dann plötzlich stand sie auf, als sei nichts gewesen, und forderte ihre Freundinnen auf, mit ihr ins Kino zu gehen. „Den Wechsel zwischen extremem Schmerz und entspannter Lebenslust hat Gesine meist schneller vollzogen als wir, die wir sie gepflegt haben“, erzählt Katharina.

Katharina Gruber, 42 Jahre alt, zierlich gebaut, Kurzhaarschnitt, ungeschminktes Gesicht. Sie kann wieder lachen. Gesines Tod liegt fast vier Jahre zurück, Jahre, in denen Katharina intensiv mit Gesine weitergearbeitet hat: 34 Stunden Filmmaterial, aus denen Katharina Gruber und Gisela Tuchtenhagen in langer, liebevoller Arbeit einen 51-minütigen Film zusammengestellt haben. Zahlreiche Vorführungen und Diskussionen darüber in ganz Deutschland. Immer wieder die geliebte Freundin sehen, in frohen und in schlimmen Zeiten. „Gesine stand bei mir an erster Stelle“, beschreibt Katharina Gruber ihr Verhältnis zu ihrer Freundin, die auch ihre Kollegin war und eigentlich so etwas wie eine Lebensgefährtin.

„Ich habe Gesine nie mit Angst vor dem Sterben erlebt“

Als sie sich 1991 kennen lernen, ist Katharina 24, Gesine 32 Jahre alt. Am Beginn ihrer Freundschaft steht die Krebsdiagnose. Katharina beobachtet Gesines aktive Herangehensweise mit Interesse. Wie sie sich mit der Schulmedizin und mit alternativen Behandlungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Wie sie nach einer ersten Operation fast zehn Jahre lang beschwerdefrei lebt.

Die beiden Frauen verbindet eine erstaunliche Unerschrockenheit. „Ich habe Gesine nie mit Angst vor dem Sterben erlebt“, sagt Katharina Gruber, „sondern mit großer Sicherheit darüber, dass der Tod ein Übergang in eine andere Welt ist. Der Tod war etwas, auf das sie neugierig war.“

1999 drehten Katharina Gruber und Gesine Meerwein ihren ersten gemeinsamen Film: „Lebenskünstlerinnen – sieben Frauen und ihre Erfahrungen mit Krebs“. Schon damals war Gesine nicht nur Co-Regisseurin, sondern auch eine der Protagonistinnen. Der Film wurde bundesweit ein großer Erfolg. „Es war diese Offenheit, die allen gut getan hat“, weiß Katharina.

Als dann eine der sieben Frauen aufs Sterben zuging, begleiteten Gesine und Katharina sie in diesem Prozess. Gesine wusste genau, wie es um sie selbst stand. Eines frühen Morgens nach einer Nachtwache am Sterbebett saß sie schreibend am Küchentisch. Katharina sah ihr Gesicht, es schien traurig und freudig zugleich. Gesine war dabei, einen Text für ihre Beerdigung zu verfassen.

„Die Hände einer alten Frau“

Katharina Gruber hat seit Gesines hoffnungsloser Diagnose ihr eigenes Leben auf Eis gelegt. Sie sagt ein Filmprojekt ab, traut sich keine Arbeit außerhalb Freiburgs anzunehmen, jobbt mal hier, mal da. Sie will ganz für die Freundin da sein, übernimmt weitgehend die Pflege, koordiniert den Hilfstrupp aus weiteren Freundinnen. Sie nennt es einen Zufall, dass sie in dieser Zeit ausgerechnet in einem Bestattungsinstitut arbeitet: „Ich brauchte einen Job, und da ergab sich einer.“

So lernt sie den Alltag mit dem Tod kennen, wie sie ihn nicht mag: weiß gekachelte Räume in Kliniken, die nackten Leichen aufgereiht in Kühlfächern, nur mit einem Tuch bedeckt. Der institutionalisierte Umgang mit den Toten, delegiert an fremde Bestatter. Katharina macht Praktika bei zwei alternativen Bestattungsunternehmen. Dort erfährt sie, wie wohltuend es für die Nächsten sein kann, ihre Verstorbenen zu berühren, sie selbst zu waschen und zu kleiden. Wie tröstlich Aufbahrung und Abschied zelebriert werden können. So lebt die Idee wieder auf, einen Film zu drehen, der zeigt, was sonst Tabu ist. Der eine Ahnung gibt davon, wie Sterben anders erlebt werden kann als meist üblich. Und Gesine ist bereit, sich filmen zu lassen bis zum Ende und darüber hinaus.

So wie diese Frau es angeht, scheint vieles selbstverständlich, obwohl es das wirklich nicht ist: Wie Gesine Meerwein bei der Friedhofsverwaltung anruft und einen Termin vereinbart, um sich einen Grabplatz auszusuchen. Wie sie das Bild für die Einladung zur Trauerfeier auswählt. Kurz vor dem Sterben zeigt der Film eine unglaublich gealterte Frau: faltiger Hals, eingefallene Wangen, tief liegende Augen, zerknitterte Hände. Gesine betrachtet sie und sagt: „Die Hände einer alten Frau.“ Es klingt nicht entsetzt, eher interessiert.

„Gesine hat uns alle gezwungen, uns mit dem Tod auseinanderzusetzen“

Und dann, nach dem Tod: Wie die Freundinnen den Sarg, den die Sterbende selbst in Form eines Bootes entworfen hatte, mit Schaffellen auslegen und Gesine hineinbetten. „Sieht richtig gemütlich aus“, sagt eine. Nur das Sterben selbst, dieser intime Prozess, den Katharina mit den Wehen einer Geburt vergleicht, blieb undokumentiert.

Familie und Freunde störten sich kaum daran, gefilmt zu werden. „Es war gar keine Frage, ob wir das wollten“, sagt der ältere Bruder mit einem Schmunzeln, „Gesine hat das so bestimmt.“ Seine Schwester muss zeitlebens recht willensstark gewesen sein. Der Vater, der Pfarrer ist, sagt: „Ich habe von meiner Tochter gelernt, dass ich keine Angst vor dem Sterben haben muss. Und ich habe seitdem auch keine mehr.“ Und Frank Sauer, Gesines Freund, sagt: „Ich fand die Idee des Films gut, weil ich selber große Schwierigkeiten mit dem Tod habe – Verdrängung, Angst, Abwehr. Mit ihrer Offenheit hat Gesine uns alle gezwungen, uns mit dem Tod auseinanderzusetzen.“

„Bilder, die bleiben“, 2007, Regie Katharina Gruber und Gisela Tuchtenhagen, 51 Minuten. Die DVD kann über bestellt werden. Homepage: www.lebenskuenstlerinnen.de

Katharina Gruber und Gisela Tuchtenhagen Katharina Gruber und Gisela Tuchtenhagen – Foto: Ulrike Schnellbach

Gesine Meerwein Gesine Meerwein

 

Erschienen u.a. in Publik-Forum, der Badischen Zeitung und der Stuttgarter Zeitung, 2008

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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