„Der ist es!“

Gerlinde Ajiboye Ames hat nach 40 Jahren ihre Jugendliebe wiedergefunden. Dazwischen liegt ein schweres Leben, das sie gebeutelt hat – und gestärkt.

Protokolliert von Ulrike Schnellbach

Gerlinde Ajiboye Ames
Gerlinde Ajiboye Ames an ihrem geliebten Bodensee – Foto: Ulrike Schnellbach

Meine Mutter hat erzählt, dass ich als kleines Mädchen gesagt hätte: „Wenn ich groß bin, gehe ich nach Afrika.“ Ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hatte, dass ich mich sofort zu Richard hingezogen fühlte. Eigentlich spielte es für mich gar keine Rolle, dass er Afrikaner war, ich habe das gar nicht wahrgenommen. Ich habe ihn gesehen, damals in der Kneipe in Leutkirch, und habe zu meiner Schwester gesagt: „Der ist es.“ Ich war 23 und nicht gerade selbstbewusst, ein unbedarftes Mädchen vom Land. Ich musste all meinen Mut zusammennehmen, um ihn zum Tanzen aufzufordern.

Er heißt Oladipupo Richard Ajiboye und ist Nigerianer. Es hat 40 Jahre gedauert, bis wir geheiratet haben und ich zum ersten Mal in seiner Heimat war. Das war letztes Jahr. Ich habe mich dort sofort wohl gefühlt – bis auf die prekäre Sicherheitslage, die das Leben natürlich sehr einschränkt. Wenn ich jung und gesund wäre, könnte ich mir trotzdem gut vorstellen, dort zu leben. Im Moment ist mein Mann wieder für vier Monate in Nigeria, er kümmert sich um seinen 109-jährigen Vater und er hat noch Beratungsaufträge – bis zu seiner Pensionierung war er für die Regierung im Erdölraffinerie-Geschäft tätig. Wir telefonieren täglich, ich vermisse ihn sehr. Aber es ist klar: Er hat sein Leben, das er mehr als 30 Jahre lang ohne mich gelebt hat, und ich habe meines. Wir werden nie eine normale Ehe führen, so dass wir immer zusammen sind. Aber wir wollen die gemeinsame Zeit intensiv erleben.

Damals, in den 70er-Jahren im Allgäu, war unsere Beziehung nicht einfach. Meine Mutter war strikt dagegen und auch seine Mutter in Nigeria war nicht glücklich darüber. Und bei Fremden sind wir auf so viel Anfeindung gestoßen! Ich wurde als „Negerhure“ beschimpft, von „Blutschande“ war die Rede. Es lag an den schwierigen Umständen, dass ich mich nach acht Jahren trennte. Und auch daran, dass er sich nicht ganz festlegen wollte. Ich war 30, ich wollte heiraten und Kinder haben. Ich arbeitete damals als Krankenschwester in der Schweiz, er promovierte in England. Das stand für ihn an erster Stelle. Seine Familie hatte sich Geld geliehen, um ihm das Chemiestudium zu finanzieren, das war eine große Verantwortung.

Gerlinde Ajiboye Ames Hochzeit
Heirat 2013 – nach 40 Jahren: Gerlinde Ajiboye Ames (rechts) mit Mann und Tochter
Foto: Christa Thoma

Das Beste, was mir passieren konnte

Später heiratete ich einen Freund, der in einer ähnlichen Situation war wie ich: Auch er hatte die Trennung von seiner großen Liebe hinter sich, auch er wünschte sich Kinder und beide wollten wir in Afrika leben. Ich dachte, es müsste funktionieren, wenn man sich respektiert und gut versteht. Aber dann kam meine Erkrankung, der erste Multiple Sklerose-Schub. Ich lag 18 Monate im Krankenhaus, konnte nicht sprechen, nicht sehen, mich nicht bewegen. Als ich für ein Wochenende probeweise nach Hause kam, war ich ein Pflegefall, saß im Rollstuhl. An diesem Wochenende wurde meine Tochter gezeugt. Der Neurologe riet mir dringend dazu abzutreiben, in meinem Zustand könne ich unmöglich ein Kind bekommen. Aber der Gynäkologe unterstützte mich und auch meine Familie, so dass ich es wagte. Hauptsache, das Kind war gesund.

Meine Tochter ist das Beste, was mir passieren konnte. Aber mit der Ehe klappte es nicht mehr, die Krankheit war eine zu starke Belastung. Außerdem habe ich diesen Mann einfach nicht genug geliebt. Den Unterschied habe ich sofort gespürt, als ich meinen Mann wiedersah: dieses tiefe, absolute Vertrauen! Und auch das Kribbeln war wieder da, die Schmetterlinge im Bauch, alles wie früher! Dabei hatte ich schon auch ein bisschen Angst gehabt vor dem Wiedersehen. Ich bin ja behindert und war unsicher, wie er darauf reagieren würde.

Meine Tochter hat ihn damals für mich auf Facebook gesucht. Mir war gar nicht so wohl dabei, ich wusste ja nicht, wie er lebte, und ich wollte nicht in eine Beziehung hineinplatzen. Aber schon am nächsten Tag rief er mich an. Er war seit zehn Jahren ebenfalls geschieden und hatte seitdem versucht, mich zu finden. Aber ich hatte ja einen anderen Nachnamen. Wenige Wochen später besuchte er mich. Es war nur schön, wir haben die ganze Nacht geredet. Ich hätte nicht gedacht, dass Gefühle so lange überdauern können. Letztes Jahr haben wir geheiratet – was ich mir immer gewünscht hatte! Er sagt, jetzt ist er endlich angekommen. Natürlich ist nicht alles nur einfach. Wir müssen beide wieder lernen, uns im Alltag mitzuteilen, was uns gerade bewegt, was wir empfinden. Das kannten wir ja gar nicht mehr, und daran arbeiten wir immer noch.

Gerlinde Ajiboye Ames Hochzeit
Endlich zusammen: Gerlinde Ajiboye Ames mit ihrem Mannt – Foto: Christa Thoma

Ich genieße jeden Moment – wer weiß, wieviel Zeit uns bleibt

Diese große Liebe hat mein Leben sehr geprägt. Wie auch meine Krankheit. Natürlich verbunden mit negativen Erfahrungen, es ging mir immer wieder sehr schlecht, aber nicht nur. Ich habe dadurch auch viel Gutes erfahren, vor allem die Unterstützung durch meine Familie und meine Freunde. Und ich habe gespürt, wie viel Kraft ich in mir habe, ich habe meine Kämpfernatur entdeckt. Heute kann ich wieder gehen, nur die Stöcke brauche ich noch fürs Gleichgewicht. Natürlich gibt es auch Tage, an denen ich jammere und genug habe von den Schmerzen, und ich muss hart arbeiten, damit es mir so gut geht: zwei Stunden täglich Übungen, Krankengymnastik, Meditationen. Aber ich empfinde eine tiefe Lebensfreude und sehe jeden Tag als geschenkte Zeit.

Ja, und dann war da noch das Nahtodeserlebnis. Das war 1984, als ich mit dem ersten Schub auf Intensiv lag. Plötzlich schwebte ich über meinem Körper, sah meine Familie darum herum sitzen und weinen. Ich hätte ihnen gerne gesagt, dass sie nicht traurig sein müssen. Denn ich hatte ein Gefühl der absoluten Harmonie, und dazu dieses wunderbare Licht! So gut war es mir noch nie gegangen. Es hat danach sehr lange gedauert, bis ich mich nicht mehr nach diesem Moment gesehnt habe. Erst die Schwangerschaft hat mich wieder geerdet. Durch diese Nahtoderfahrung hat sich mein Glaube in Überzeugung verwandelt. Der Glaube ist der Motor meines Lebens, weil ich spüre, dass ich getragen bin; als säße da jemand neben mir, der mich hält.

Schön ist zu sehen, wie sehr sich unsere Gesellschaft in den letzten 40 Jahren verändert hat. Natürlich gibt es noch immer Rassismus. Aber wir erleben so viele positive Reaktionen auf unsere Beziehung; wildfremde Leute, die sich mit uns freuen, das berührt mich sehr.

Mein Mann sagt, dass er es bedauert, dass er mir in den schweren Zeiten nicht zur Seite stehen konnte. Und dass ich ihn nicht auf all seinen Reisen, die er im Auftrag der OPEC gemacht hat, begleiten konnte. Ich bin nicht so, ich schaue nicht zurück. Ich genieße einfach jeden Moment, den wir zusammen haben. Wir wissen ja nicht, wie viel Zeit uns bleibt. Ich bin glücklich und möchte einfach, dass er auch glücklich ist.

 

Erschienen in Publik-Forum 16/2014

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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