„Flüchtlinge als Einwanderer behandeln“

Die CDU-Politikerin Rita Süssmuth plädiert dafür, mehr auf die Stärken der Armutsmigranten zu blicken als auf ihre Schwächen

von Ulrike Schnellbach

 

Zurzeit hört man wieder: „Deutschland braucht Zuwanderer“ – wegen des Fachkräftemangels. Diese Erkenntnis hatten Sie in der Zuwanderungskommission schon vor Jahren.

Rita Süssmuth: Es dauert lange von der Erkenntnis bis zur Umsetzung, ich habe das in der Frauenfrage schon einmal erlebt. Und Sie sehen ja, wie strittig die Zuwanderung ist. Ich bin davon überzeugt, dass wir eine begrenzte, gezielte Zuwanderung in Engpassbereichen brauchen – Ingenieure, Maschinenbauer, IT-Fachkräfte. Wenn gesagt wird, für die 20.000 bis 40.000 unbesetzten Stellen in diesen Bereichen muss in Deutschland nachqualifiziert werden, dann sage ich: Ja, aber wenn ich einen bestimmten Wirtschaftsauftrag habe, dann kann ich nicht ein Jahr auf die Arbeitskräfte warten. Hier braucht die Wirtschaft auch kurzfristig Einwanderung. Das haben wir im Sachverständigenrat für Zuwanderung vorgeschlagen – der Lohn war: Wir wurden 2004 aufgelöst. Das passte nicht in die politische Konstellation. Nun haben wir das Jahr 2007, und der Ruf nach Zuwanderung in wirtschaftlichen Engpassbereichen wird immer lauter.

Die Zuwanderungskommission propagierte ein modernes Einwanderungsrecht, zum Beispiel – schon damals – ein Punktesystem zur Auswahl von Arbeitsmigranten. Von dem Ergebnis, dem Zuwanderungsgesetz, müssen Sie doch sehr enttäuscht gewesen sein.

Rita Süssmuth: Das war eine große Enttäuschung. Es ist fast vier Jahre über diesen Gesetzentwurf gestritten worden bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Aber in der abgespeckten Version, die dann Gesetz wurde, fehlten die Antworten auf ganz zentrale Fragen: Wie gestalten wir die Zuwanderung, nach welchen Gesichtspunkten wählen wir aus? Wie verbinden wir die Arbeitsmigration mit dem Flüchtlingsschutz? Was geschieht mit den illegal Zugewanderten? Wie steht es um die Rechte der Kinder, um die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge? Zu all diesen Fragen haben wir Empfehlungen gegeben, die sich damals nicht durchsetzen ließen. Aber die Diskussion geht weiter, und auch wir werden mittelfristig ein Punktesystem haben.

Migrationsforscher fordern schon lange mehr Zuwanderung, um die Folgen der demografischen Entwicklung abzumildern. Das Problem ist erkannt, Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch – wieso ist die Politik so zögerlich, sie umzusetzen?

Rita Süssmuth: Wir haben drei Enquete-Kommissionen zum demografischen Wandel gehabt. Ein Grund dafür war, dass wir uns auf die Konsequenzen und Empfehlungen nicht einigen konnten. Auf keinen Fall durfte, nach Auffassung meiner Partei, Zuwanderung als ein Instrument zur Reduzierung der demografischen Probleme eingebracht werden. Dahinter steht die Angst auf Seiten der Politiker, die Wahrheit sei dem Volk nicht zumutbar. Dagegen sage ich: Das Volk weiß oft längst Bescheid und wartet auf Antworten der Politik, wie das Problem gelöst werden soll. Wir müssen mehr erklären und aufklären: Es geht darum, neben dem Flüchtlingsschutz diejenigen ins Land zu holen, die Wirtschaftsdynamik entfalten, die uns weiterhelfen, unsere Probleme zu lösen. Was wäre dieses Land beispielsweise ohne ausländische Pflegekräfte? Darauf kommt der Einwand: Wir haben arbeitslose Altenpflegerinnen und Krankenschwestern. Aber es gibt gleichzeitig Politiker, die aufgrund der häuslichen Situation für ihre eigenen Eltern oder Schwiegereltern solche Pflegekräfte dringend anfordern.

Die Zuwanderungskommission hat auch eine bessere Integration der bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten gefordert. Sind Sie zufrieden mit dem, was seither geschehen ist?

Rita Süssmuth: Zunächst bin ich zufrieden damit, dass wir seit 2005 wirklich eine Wende in der Integrationspolitik wahrnehmen können.

Woran machen Sie das fest?

Rita Süssmuth: Dass wir klar sagen, Integration ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Wir haben früher keine Sprachkurse, keine Integrationskurse gehabt. Wir haben nicht darauf geachtet, schon im Kindergarten anzufangen mit Bildungs- und Sprachförderung. Entscheidend ist jetzt, ob wir dieses Umdenken auch umsetzen. Schaffen wir kleinere Gruppen im Kindergarten und in der Schule, lassen wir die Kinder länger zusammen lernen, bilden wir unsere Lehrkräfte und Erzieherinnen entsprechend aus, gelingt uns individuelle Förderung? Was geschieht in den Sprachkursen für Erwachsene, um das Deutschsprechen auch zu ermöglichen? Die Erfahrung zeigt: Wer keine Möglichkeit hat eine Sprache zu sprechen, lernt sie auch nicht nachhaltig. Wie früh beginnen wir mit dem Übergang Schule – Beruf, mit Praxiserfahrungen? Ich nenne das Beispiel des Hamburger Unternehmers Otto, der sich zum Ziel gesetzt hatte, zehn Prozent Migrantenkindern und Hauptschülern eine Ausbildung zu ermöglichen – heute sind es schon weit mehr. Es kommt immer auf Menschen an, die Initiative ergreifen und andere mitziehen.

Was nützen Großveranstaltungen wie der Integrationsgipfel, den die Regierung vergangenen Sommer zum zweiten Mal abgehalten hat?

Rita Süssmuth: Das ist der Part der symbolischen Politik. Wir zeigen damit, dass Kommunen, Bundesländer und der Bund sich gemeinsam um die Integration bemühen. Das bewerte ich positiv. Vorher haben Migranten keine Signale bekommen, dass die Politik wirklich an ihrer Integration interessiert ist, sie haben keine Signale bekommen, dass sie nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Bereicherung sind. Das passiert auf diesen Integrationsgipfeln. Doch auch hier wird es darauf ankommen, unter Beweis zu stellen, dass wir nicht nur Pläne machen – die haben wir auch schon in den 70-er Jahren gemacht –, sondern dass wir sie auch umsetzen.

Es gibt große Defizite bei der Integration der zweiten Generation, also der in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern. Was ist da versäumt worden?

Rita Süssmuth: Wir haben uns nicht gekümmert um die zweite Generation. Bei der ersten Generation, die wir geholt haben, sind wir davon ausgegangen, dass sie über die Arbeit integriert werden. Die zweite Generation hat erlebt, dass ihre Eltern nicht mehr integriert waren, dass das, was sie aus eigener Anstrengung erreicht haben, keine Wertschätzung erlebt. Da darf man sich nicht wundern, dass viele von ihnen perspektivlos geblieben sind. Sie fragen sich, wo sie eigentlich hin gehören, und besinnen sich wieder mehr auf ihre Herkunftskultur. Sie navigieren zwischen den beiden Kulturen. Aber die Bereicherung, die sie daraus einbringen könnten, ist nicht gefragt. Deswegen ist es ganz wichtig, dass der Satz „Wir wollen kulturelle Vielfalt“ nicht nur ein Programmsatz bleibt, sondern dass wir einander kennen und schätzen lernen, und unsere Probleme gemeinsam lösen.

Die Grundstimmung in Deutschland ist nach wie vor alles andere als ausländerfreundlich. Es gibt immer wieder rassistische Überfälle, Ausländerfeindlichkeit ist weit verbreitet. Wie kann sich das ändern? 

Rita Süssmuth: Das sind die Vorurteile, Sätze wie: Die wollen sich nicht integrieren, die sprechen nicht unsere Sprache, die wollen nur ihre eigene Herkunftskultur leben. Das kann man verändern, indem wir gemeinsam Alltag erleben. Mehr zusammen arbeiten, vor allem in der Schule. Deshalb bin ich für Ganztagsschulen, die gemeinsame Erfahrungen auch außerhalb des Unterrichts ermöglichen. Wir haben das Vorurteil, bei den Türken, Arabern und Afrikanern handele es sich um rückständige Kulturen, und davon kommen wir nur weg im Zusammenleben, durch Begegnung. Eine Familie, die erlebt, wie sich eine polnische oder lateinamerikanische Pflegekraft rund um die Uhr des Pflegebedürftigen annimmt, kommt zu ganz anderen Urteilen über Migranten, als Menschen, die nie Kontakt mit ihnen gehabt haben.

Deutschland ist nicht nur bei der Arbeitsmigration sehr restriktiv, sondern auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Es kommen immer weniger ins Land, und Flüchtlingsorganisationen kritisieren die rigide Abschiebepraxis. Wie kann Deutschland seinen humanitären Verpflichtungen nachkommen?

Rita Süssmuth: Die meisten Menschen kommen noch immer gezwungenermaßen zu uns aufgrund extremer Armut, verheerender Umweltbedingungen, politischer, weltanschaulicher, religiöser Verfolgung. Deshalb gilt es zwei Dinge zu tun: die Lebensverhältnisse vor Ort zu verbessern und den Menschen Schutz zu geben, die Schutz brauchen. Unser Land muss wieder sensibler werden, wohin wir Flüchtlinge zurückschicken können. Wir schicken bereits in den Irak, nach Afghanistan, ins Kosovo zurück, wo etwa traumatisierte Menschen überhaupt nicht klarkommen. Wir müssen nicht nur die Genfer Flüchtlingskonvention formal zur Kenntnis nehmen, sondern wir müssen als Menschen handeln und sie einhalten. Wenn wir in Europa  zu einem echten burden sharing kommen würden, so dass jedes Land solidarisch Menschen aufnimmt und sich kümmert, wären wir einen großen Schritt weiter.

Das Gegenteil geschieht: Die Europäische Union unternimmt große Anstrengungen, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten, etwa mit der gemeinsamen Grenzschutzorganisation Frontex, die Flüchtlingsboote im Mittelmeer abfängt.

Rita Süssmuth: Diese Abschottung macht uns nicht glaubwürdig, und sie hilft den Menschen auch nicht. Die Trennung „Arbeitsmigranten ja, Flüchtlinge nein“ funktioniert so nicht. Ich plädiere für eine stärkere Verzahnung zwischen Arbeitsmigration und Flüchtlingsschutz. Unter den Flüchtlingen gibt es genauso viele Qualifizierte wie in der Kategorie Arbeitsmigranten. Wir dürfen nicht den Fehler machen, Flüchtlinge für schwach zu halten. Wer tausende von Kilometern überwunden hat und schrecklichen Strapazen ausgesetzt war, der hat ganz große Stärken. Wir sollten unser Augenmerk auf ihre beruflichen, kulturellen und sozialen Kompetenzen richten und sie als qualifizierte, kompetente Menschen in unsere Gesellschaft einbeziehen. Nehmen Sie das Beispiel Portugal: Das Land hat wegen Ärztemangels die Ärzte unter seinen Flüchtlingen nachgeschult und sie für den Arbeitsmarkt freigegeben, anstatt sie weiter auf dem Bau arbeiten zu lassen.

Rund die Hälfte der Flüchtlinge weltweit flieht inzwischen vor den Folgen des Klimawandels – 20 Millionen sind es einer Greenpeace-Studie zufolge bereits heute, und das werden in Zukunft immer mehr Menschen sein. Wie soll die Politik auf dieses Problem reagieren?

Rita Süssmuth: Die Migrationspolitik muss dringend solche neuen Gegebenheiten einbeziehen. Wenn jemand verdurstet, wenn wegen Wassermangels auch im Landbau nichts mehr auszurichten ist, dann ist das eine extreme Gefahr für Leib und Leben. So wie wir Bürgerkriegsflüchtlinge als Kategorie geschaffen haben, müssen wir auch die Kategorie Klimaflüchtlinge einbringen. Wenn wir diese Menschen nicht schützen, wo sollen sie bleiben? Wir sehen ja bei der illegalen Zuwanderung, wie viele Menschen dabei den Tod finden. Das hat die Politiker aufgeschreckt. Wir müssen die Lebensbedingungen vor Ort verbessern. Klimakatastrophen und Armut, das geht uns alle an und betrifft uns direkt und indirekt.

Und Sie glauben, dass die Politiker in Ihrem Sinne reagieren werden?

Rita Süssmuth: Sie müssen reagieren. Nichts geschieht von selbst, indem man das Illegale tabuisiert und sagt: Das darf nicht sein. Wir investieren immense Summen in Grenzkontrollen. Stellen Sie sich vor, wir würden das Geld in die von Armut betroffenen Länder!

Zur Person

Rita Süssmuth, CDU, war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Senioren und von 1988 bis 1998 Bundestagspräsidentin. In den Jahren 2000 / 2001 leitete sie die Zuwanderungskommission der rot-grünen Bundesregierung. Im Anschluss daran war sie Vorsitzende des neu geschaffenen Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration, der 2004 aufgelöst wurde. 2003 bis 2005 war sie Mitglied der Global Commission on International Migration. 2006 erschien ihr jüngstes Buch: „Migration und Integration – Testfall für unsere Gesellschaft“.

Erschienen in Publik-Forum 24 / 2007

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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