Der verborgene Raum

Kassem Karimi versteckte Afghanistans Filmarchiv vor den Taliban – und riskierte dafür sein Leben

Von Ulrike Schnellbach

Kassem Karimi
In Sicherheit: Kassem Karimi bei seinem Besuch in
Weil am Rhein im Sommer 2013 – Foto: Ulrike Schnellbach

Es gibt Menschen, denen hat der 11. September 2001 das Leben gerettet. Kassem Karimi gehört zu ihnen, ein 60-jähriger Afghane mit dunklem, ledernem Teint und schmaler Statur. Im September 2001 hatten Karimi und seine Kollegen vom staatlichen Filminstitut Afghan Film ihr Ende vor Augen. Nur ein Wunder konnte sie noch vor dem tödlichen Zorn der Taliban-Herrscher retten. Vor diesem Hintergrund klingt es gar nicht zynisch, wenn Karimi sagt: „Der 11. September war für uns ein Glücksfall“. Denn die Anschläge, die in New York, Washington und Pennsylvania fast 3000 Menschen das Leben kosteten, brachten in Afghanistan die Wende. Der Einmarsch amerikanischer und alliierter Truppen beendete die Schreckensherrschaft der Taliban. Ohne diese Wendung würde Kassen Karimi heute nicht hier sitzen, unbehelligt und friedlich im Café des Vitra Design Museums im südbadischen Weil am Rhein, und seine abenteuerliche Geschichte erzählen.

Mit den freundlichen Falten um die dunklen Augen wirkt es, als würde der Mann stets ein wenig lächeln, der graue Schnauzer verleiht seinem Gesicht einen leicht verschmitzten Ausdruck. In Wirklichkeit ist er ernst und hoch konzentriert. Ganz fest hält er einen Kugelschreiber in der Hand, mit dem er ab und zu etwas in seinem kleinen schwarzen Notizbuch vermerkt. Er rechnet dort den afghanischen Kalender um, um korrekte Angaben machen zu können. Und fertigt eine Skizze an von der Lage des Raumes, den er und seine Kollegen über Jahre vor den Taliban verborgen hielten. „Das Haus war ziemlich verwinkelt gebaut, der Raum lag in einer Ecke“, erklärt Karimi und zeichnet ein paar Striche aufs Papier. Ganz harmlos sieht das aus – aber wenn die Taliban eine solche Notiz gefunden hätten, wäre Karimi ein toter Mann gewesen. Die Tür zu dem Raum hatten er und seine Kollegen mit einer Holzwand verdeckt. Dahinter verbarg sich das gesamte afghanische Filmarchiv. Zur Tarnung hängten die Angestellten einen großen Wandkalender auf, die Deckenlampe schraubten sie heraus. Niemand sollte ahnen, dass sich etwas anderes an dieser Stelle befand als eine Wand.

Wie in anderen Kulturschätzen auch – bekanntestes Beispiel sind die Buddha-Statuen von Bamiyan, die 2001 gesprengt wurden –, sahen die Taliban in den Filmen Gotteslästerung. Infolgedessen erschien eines Tages der Kulturminister bei Afghan Film und verlangte die Herausgabe allen Materials. „Wenn wir später auch nur einen Film finden“, habe er gedroht, „dann werdet ihr mit dem Film zusammen verbrennen.“ Karimi und seine Kollegen händigten sämtliche Kopien aus, sie wurden verbrannt. Aber die Negative hielten die Angestellten zurück. „Wir standen mit dem Minister genau vor dieser Holzwand“, erzählt Karimi und zeigt mit dem Kugelschreiber auf seine Zeichnung.

Der Großvater plant das Filmarchiv, der Vater baut es

Karimi spricht Persisch, eine junge Deutsch-Afghanin übersetzt, und er hört genau hin. Wenn er das Gefühl hat, sie könnte etwas nicht richtig wiedergegeben haben, setzt er auf Französisch nach, bis er sicher ist, dass man ihn verstanden hat. „Er will wissen, warum Sie nicht mitschreiben“, sagt die Übersetzerin einmal, als Karimi gerade von seinem Bruder erzählt, der als Chemiker in Hamburg lebt und den er jetzt, zum ersten Mal seit 35 Jahren, wieder getroffen hat. Wachsam zu sein, misstrauisch, das war für Karimi in der Taliban-Zeit überlebenswichtig. 

Kassem Karimi
Der Hüter der afghanischen Filme: Kassem Karimi 2001
in seiner zerrissenen Heimat – Foto: privat

Er hatte viele Jahre lang als Techniker bei Afghan Film gearbeitet. Das Institut, das Dokumentationen und Spielfilme produzierte und archivierte, muss Karimi mehr am Herzen gelegen haben, als man es von einem einfachen Mitarbeiter erwartet. Er versucht das zu erklären, indem er mit seiner Geschichte in seiner Kindheit beginnt, als sein Großvater in Kabul Architekt war und sein Vater Maurer in derselben Firma. Er selbst sei in der achten Klasse gewesen, als der Familienbetrieb die Afghan Film-Zentrale in Kabul baute. Auf dem Schulweg sei er immer an der Baustelle vorbeigekommen und habe sich vorgestellt, dort eines Tages zu arbeiten.

Seine Ausbildung zum Tontechniker absolvierte der junge Kassem in Bulgarien, und tatsächlich hat er seither für das Filminstitut gearbeitet. In seiner Geschichte geht es vor allem um das Archiv: 6000 Stunden Material, bis zu 90 Jahre alt. Um die Bedeutung der Sammlung zu veranschaulichen, greift er noch ein Stück weiter in die Vergangenheit zurück: In den 1920er-Jahren sei der afghanische König Amannullah Khan in Europa gewesen – auch in Deutschland, wie Karimi mit einem kleinen Lächeln betont –, wo der König von den ersten Tonfilmen fasziniert gewesen sei. Er habe einiges an Technik nach Afghanistan gebracht, Abspielgeräte, Kameras, und obendrein Filme, die er während seiner Europareise selbst gedreht habe. Die ersten Tonfilme in afghanischer Sprache – für einen passionierten Tontechniker wie Karimi ein Schatz von ungeheurem Wert.

Asyl in Deutschland? „Nicht ohne meine Familie!“

Karimi muss seine Heimat mitsamt ihrer zerrissenen Vergangenheit und Gegenwart sehr lieben. „Ich könnte hier bleiben“, sinniert er im Weiler Café, denn die Gefahr ist für ihn nicht gänzlich gebannt. Sollten die Taliban noch einmal an die Macht kommen, wären Karimi und seine Kollegen erledigt. Zumal sie in der Zwischenzeit mehrfach ausgezeichnet worden sind. Außerdem hat die renommierte US-amerikanische National Geographic Society ihre Geschichte in einem Film mit dem Titel „Lost Treasures of Afghanistan“ (Afghanistans verlorene Schätze) dokumentiert. „In Kabul kennt man mein Gesicht“, sagt Karimi. Doch sei er zuversichtlich, dass die dunkle Zeit der Taliban nicht wiederkommt. Und falls doch? „Dann muss ich Asyl beantragen – aber nicht ohne meine Familie.“

Seine Frau und seine fünf Kinder waren damals nicht eingeweiht. Es ging ja um ein brisantes Geheimnis; je weniger davon wussten, desto sicherer. Außerdem, glaubt Karimi, hätten sie bestimmt versucht, ihn von seiner Mission abzubringen. Und dann macht er noch eine Anmerkung, die kaum zu glauben ist: Zwei Männer aus der Taliban-Führung hätten von der Existenz der Negative gewusst. Diese beiden seien der Ansicht gewesen, dass es sich bei Dokumentar- und Spielfilmen nicht um Gotteslästerung handle. Karimi erinnert sich bis heute an ihre Worte: „Wenn ihr eine Möglichkeit findet, die Filme zu verstecken, dann macht es. Wir wissen nichts davon.“

Angst ist kein Begriff, den Karimi von sich aus in den Mund nehmen würde. Für ihn scheint es so zu sein, dass er einfach seine Pflicht getan hat. Er wählt einen Vergleich: Die einen schützen ihr Land mit Waffen und nehmen den Tod in Kauf. Sich selbst und seine Mitstreiter sieht er als „Soldaten der Kultur“, mit demselben Ehrgefühl und derselben Pflicht, das Land zu verteidigen.
Doch im Jahr 2001, spätestens da, muss die Angst groß gewesen sein. Immer noch ging Karimi täglich zur Arbeit, wartete die Geräte, die keine Filme mehr produzierten und keine mehr vorführten. Alles Teufelszeug für die fanatischen Taliban-Krieger. Sie planten unterdessen, in dem gottlosen Institut ein Waffenmuseum einzurichten. Was das bedeutete, war Karimi bewusst: Mit dem Umbau wäre der verborgene Raum unweigerlich entdeckt worden.

Wieder einmal: Ein Selbstmordanschlag in Kabul

Doch mit dem Umsturz in Kabul nach dem 11. September 2001 sind aus den Verschwörern – in der Taliban-Sicht Verrätern – Helden geworden. Sie waren nicht die einzigen: Nach dem Ende der Schreckensherrschaft tauchten in Afghanistan zahlreiche Kunstschätze auf, die todesmutige Gleichgesinnte versteckt hatten.

Kassem Karimi, der Enkel des Architekten, arbeitet bis heute bei Afghan Film. Er dreht inzwischen selbst Dokumentarfilme und schreibt an einem Drehbuch über sein Lebensthema, die Geschichte des afghanischen Films. Nach Südbaden ist er auf Einladung einer Schweizer Kulturorganisation gekommen, die einen internationalen Austausch zwischen Filmschaffenden ins Leben rufen will. Für Karimi ist es der letzte Tag eines vierwöchigen Aufenthalts mit vielen Gesprächen in der Schweiz und Deutschland. Am nächsten Tag fliegt er zurück in seine schwierige, geliebte Heimat. Die Nachrichten melden an jenem Abend wieder einmal einen Selbstmordanschlag mit vielen Toten in Kabul, Karimis Stadt. Gottlob: Zwei Tage später schickt Karimi eine E-mail. Er ist unversehrt.

Erschienen in der Badischen Zeitung am 27. 6. 2013 und in Publik-Forum Extra „Heimat“ (Herbst 2013)

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

PDF-Version (Drücken Sie die rechte Maustaste und klicken Sie auf "Ziel speichern unter")