Auf Gut Gödelitz in Sachsen treffen sich seit 33 Jahren Menschen aus Ost- und Westdeutschland, um einander aus ihrem Leben zu erzählen. Ulrike Schnellbach kommt aus Baden-Württemberg und hat teilgenommen.
Gut Gödelitz in Sachsen: Ein Ort, an dem Menschen einander zuhören und verstehen wollen. Foto: Martin Klindtworth
Am Ende sind dann manchmal die Dinge überraschend, die nicht gesagt wurden. Weil man erwartet hat, dass sie im Leben der Anderen eine große Rolle gespielt haben müssen. Zum Beispiel in der BRD: die bunte Konsumwelt. In der DDR: die Stasi. Die Warenwelt wird zwar mehrfach erwähnt an diesem Wochenende, an dem vier Menschen aus West- und vier aus Ostdeutschland auf Gut Gödelitz in Sachsen zusammensitzen, um einander aus ihrem Leben zu erzählen – jedoch ausschließlich von Ostdeutschen. Sie sahen die bunten Produkte in der Werbung im Westfernsehen – und staunten nicht schlecht, als sie später, beim ersten Besuch in einem westdeutschen Supermarkt, diesen glitzernden Überfluss tatsächlich vorfanden.
Die Stasi hinwiederum: kein Thema in den Lebensberichten der ehemaligen DDR-Bürger*innen. Nur einmal wird die ständige Überwachung erwähnt, als die Architektin Doris (Jahrgang 1959) von ihrer Zeit an der Hochschule Weimar erzählt. Die Atmosphäre dort habe sie als sehr offen erlebt: „Wir hatten tolle Profs, die Interesse daran hatten, den Sozialismus zu leben und weiterzuentwickeln“, erinnert sie sich. Auch sie selbst sei von der Idee des Sozialismus begeistert gewesen. Aber als sie und andere 1988 gegen die Einstellung der kritischen sowjetischen Zeitschrift ‚Sputnik‘ protestierten, „wurden wir von oben überwacht und an die Kandare genommen“. Erst auf Nachfrage erzählt sie dann noch: „Ja, die Herren standen immer irgendwo rum“ – vor allem, wenn ausländische Studierende zu Besuch waren. Michael (Jahrgang 1963) sagt auf die Frage nach der Rolle der Staatssicherheit in seinem Leben: „Im Hinterkopf war die immer präsent“, auch wenn er nie eine direkte Begegnung mit Stasi-Leuten gehabt habe.
Dass man über die Erzählungen der anderen staunt, gehört zum Konzept der Biografiegespräche auf Gut Gödelitz. Es geht darum, sich einzulassen, sich überraschen zu lassen, Vorurteile abzubauen und Verständnis zu entwickeln, ohne zu urteilen und ohne zu kritisieren. Dafür sorgt ein Moderatorenteam, das die Gespräche behutsam leitet.
Wer ist heute noch ostdeutsch, wer westdeutsch?
Ist das wirklich noch interessant – 36 Jahre nach dem Mauerfall? Wissen West- und Ostdeutsche nicht inzwischen genug von der unterschiedlichen Prägung durch zwei grundverschiedene Systeme? Zwar lässt sich teilweise schwer bestimmen, wer heute überhaupt noch ostdeutsch, wer westdeutsch ist: Was ist beispielsweise mit Angelika aus unserer Runde, die 33 Jahre ihres Lebens im Ruhrgebiet und 33 Jahre in Dresden verbracht hat, wo sie sich zuhause fühlt und bleiben möchte? Dennoch gibt es nach wie vor gravierende Unterschiede in Mentalitäten und Einstellungen, wie der kluge Rostocker Soziologe Steffen Mau gerade in seinem Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ anschaulich beschrieben hat. In einem persönlichen Lebensbericht klingt das dann zum Beispiel wie bei Michael, der mit einem Statement beginnt: „Die DDR ist und bleibt meine Heimat, und jeden, der diesen Heimatgedanken angreift, muss ich in die Schranken weisen.“
1992, als Axel Schmidt-Gödelitz die Gesprächsreihe initiierte, war sein Ziel, „einen Beitrag zur angestrebten inneren Einheit nach der Wiedervereinigung zu leisten“. Und heute? Schmidt-Gödelitz, der unzählige Biografierunden moderiert und das Modell inzwischen bis nach Korea exportiert hat, ist von der Wirkung nach wie vor überzeugt: „Es ist der Perspektivwechsel, der das Leben des Anderen nachvollziehbar und seine Entscheidungen, auch wenn sie befremdlich oder kritikwürdig sein mögen, in vielen Fällen verstehbar oder sogar akzeptabel macht.“ Er erzählt von einem Wochenende, bei dem ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter auf einen Mann traf, der als politischer Häftling in Bautzen eingesessen hatte – „ein kaum erträgliches Spannungsverhältnis“. Doch zum Abschied gaben beide sich nicht nur die Hand, sondern umarmten sich sogar.
Eine harte Probe für die Toleranz
So dramatisch verlief unsere Gesprächsrunde im Sommer 2025 zwar nicht. Aber auch meine Toleranz wurde auf eine harte Probe gestellt: Neben mir, die ich mich beruflich wie privat gegen Rechtsextremismus engagiere, saß ein Mensch, der sich als „links“ bezeichnete; bis 1990 war er überzeugtes SED-Mitglied. 2013 gründete er jedoch in seiner sächsischen Heimatstadt einen AfD-Ortsverband. 2014 verließ er die Partei wieder und warnt heute, so sagt er, vor ihrer gefährlichen Radikalisierung. Gewählt habe er sie trotzdem, „damit sich etwas ändert“. Und sowieso, sagt er, würde er am liebsten seine Koffer packen und auswandern. Wohin? „In die Sowjetunion!“
Manches lässt sich selbst nach einem ganzen Wochenende einfach nicht verstehen. Es zu versuchen lohnt sich aber allemal.
Kontakt:
Biografiegespraeche@gut-goedelitz.de
https://gut-goedelitz.de/biografiegespraeche/
Erschienen in Publik-Forum 19/2025
© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin
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