"Das ist einfach absurd"

Der Offenburger Friseurmeister Stefan Krastel pflegt seit zwölf Jahren seine Mutter – und ist dadurch finanziell verarmt

Protokoll von Ulrike Schnellbach

Stefan Krastel pflegt seine Mutter zuhause
Stefan Krastel mit seiner Mutter

Der eigentliche Held dieser Geschichte ist meine Mutter. Nur durch ihren starken Willen weiterzuleben sitzen wir heute hier. Im Grunde hat sie mich hinausgeschickt in die Welt, ich bin lediglich ihr verlängerter Arm, das Medium, damit sich etwas ändert für die Vielen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen nicht in ein Heim geben wollen. Was Mutter trotz ihrer Behinderung weiterleben lässt, ist die Hoffnung auf glückliche Momente. Berührung, Zärtlichkeit spielen eine große Rolle für sie, ein Ausflug an der frischen Luft, überhaupt Ausflüge – aber die können wir nicht mehr gut machen, seit unser behindertengerechtes Auto Hartz IV zum Oper gefallen ist. Darunter leiden wir im Alltag am meisten.

Ich erzähle am besten der Reihe nach. 1998, kurz nach dem Tod unseres Vaters, hatte Mutter einen Schlaganfall und lag fünf Tage im Koma. Wir dachten, sie wacht nicht mehr auf, aber der liebe Gott hat ihr nochmal eine Extrazeit geschenkt. Sie ist seitdem halbseitig gelähmt und spricht fast nicht mehr. Mein erster Reflex war: Das geht mich nichts an. Aber dann tat sie mir leid, und ich merkte auch, wie wertvoll sie mir war. Ich sah die Verhältnisse in der Reha und beschloss, dass ich meine Mutter nicht im Heim haben wollte. Also zog ich bei ihr ein und gab uns zwei Monate Probezeit. In der Zeit merkte ich, dass ich das kann mit der Pflege, und damit war auch klar, dass ich das mache.

Dabei opfere ich mich nicht auf. Erstens bekomme ich viel zurück von meiner Mutter. Es ist etwas Wunderschönes, in so einer schnelllebigen, auf Gewinn ausgerichteten Zeit mit jemandem zu leben, der mich zwingt, mein Leben zu entschleunigen. Ich sehe das als Geben und Nehmen. Was wäre die Sonne ohne die, für die sie scheinen darf? Zweitens glaube ich, dass ich das moralisch Richtige mache, daraus ziehe ich eine tiefe Befriedigung. Und drittens, auch wenn das abgeschmackt klingt: Ich liebe sie. Ganz einfach.

Das Problem ist nicht die Pflege selbst, das Problem sind die Umstände

Dabei habe ich auch, wie die meisten von uns, dunkle Kapitel in meiner Kindheit. Mutter hat mich nicht immer so behandelt, wie ich mir das gewünscht hätte, und sie stand meinem älteren Bruder sehr viel näher als mir, das kam mir manchmal vor wie eine Verschwörung der beiden gegen mich, während mein Vater viel krank und oft weg war. Aber wir können vor dem Verhältnis, das wir zu unseren Eltern haben, nicht davonlaufen, die Aussöhnung muss stattfinden. Und sie hat bei mir in den letzten Jahren stattgefunden, nonverbal zwar, aber das ist ja manchmal viel wichtiger. Die unterschwelligen Verletzungen sind völlig ausgeheilt.

Dadurch habe ich insgesamt ein besseres Verhältnis zum weiblichen Geschlecht entwickelt, vertrauensvoller, offener. In der Zeit, seit ich Mutter pflege, habe ich die Trennung von meiner Frau erlebt und zwei kürzere Beziehungen, die beide an meiner mangelnden Flexibilität wegen der Pflegesituation gescheitert sind. Jetzt habe ich seit drei Jahren wieder eine Freundin, die selbst noch beide Eltern hat und es ganz toll findet, was ich mache. Wenn wir uns sehen wollen, muss sie eben meistens zu mir kommen. Wir könnten uns auch vorstellen zusammenzuleben – aber dann müsste sie finanziell für mich aufkommen, das geht nicht.

Das Problem ist nicht die Pflege, das Problem sind die Umstände. Denn ich bin in Hartz IV gerutscht, wo ich nichts verloren habe, und durch Hartz IV bin ich verarmt. Das kam so: Die ersten sieben Jahre haben die Ersparnisse meiner Mutter gereicht, um die Kosten für die Pflege zu decken, die nicht von der Pflegeversicherung abgedeckt waren. In dieser Zeit habe ich weiter in meinem Friseurgeschäft gearbeitet und jemanden für die Pflege zuhause bezahlt.

Was da passiert in Deutschland, ist absurd

Dann war das Geld meiner Mutter weg, und was dann passiert in Deutschland, ist absurd: Hätte ich meine Mutter in ein Heim gegeben, wäre neben der Pflegeversicherung (ca. 1500 Euro monatlich für Pflegesachleistungen) das Sozialamt für die Kosten aufgekommen. Da ich aber beschloss, Mutter zuhause zu behalten, bekomme ich nur 675 Euro Pflegegeld im Monat. Den Rest hätte ich selber aufbringen müssen, aber so viel Geld, wie eine halbwegs legale Pflege kostet, kann ich als Friseur gar nicht verdienen. Ich konnte es mir also schlicht nicht leisten, weiter zu arbeiten und meine Mutter währenddessen zuhause pflegen zu lassen. Ich hatte nur die Wahl, Mutter entweder ins Heim zu geben oder die Pflege komplett selbst zu übernehmen.

Ich beantragte Unterstützung und musste mein ganzes Vermögen aufbrauchen, bevor ich Hartz IV bekam: Meine Ersparnisse, meine Lebensversicherung, das behindertengerechte Auto, und jetzt steht die Zwangsversteigerung meines Hauses an. Das war eine harte Schule: den eigenen Abstieg vor Augen zu haben und auszuhalten. Aber da bin ich durch. Was wir haben, sind die 675 Euro Pflegegeld, Mutters Rente von etwa 500 Euro und Hartz IV für mich. Ich habe gelernt, mit wenig auszukommen, das hat auch sein Gutes. Das Schlimme ist, dass die Ersparnisse draufgegangen sind. Wenn ich später wieder ein Friseurgeschäft aufmachen will, fange ich bei Null an.

Die meisten Menschen wollen im Alter am liebsten zuhause bleiben, und der Slogan heißt ja auch „ambulant vor stationär“. Aber im Grunde kann man es sich nicht leisten, seine Angehörigen zuhause zu pflegen. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, bin ich im vergangenen Sommer nach Berlin marschiert und habe Gespräche mit Politikern geführt. Die Lösung wäre ganz einfach: Das Pflegegeld, das pflegenden Angehörigen zusteht, müsste zumindest bei Pflegestufe 3 an die Pflegesachleistungen angeglichen werden, die ein Pflegedienst oder das Heim bekommt. Inzwischen halte ich Vorträge über die Situation pflegender Angehöriger, ich werde in Fernseh-Talkshows eingeladen, die Medien berichten über mich.

Es tut gut, zumindest Gehör zu finden

An unserer Situation hat sich dadurch nichts geändert. Aber es tut gut, Gehör zu finden. Ich spüre zumindest in den Medien einen Konsens, dass es da ein Problem gibt. Ich werde nicht mehr als Exot angesehen, muss nicht mehr denken, dass ich etwas falsch gemacht habe. Wenn mich jemand fragt, warum ich das mache, stelle ich die Gegenfrage: Warum würdest du es nicht machen?

Wenn Mutter stirbt, wird das natürlich eine große Freiheit für mich bedeuten. Ich könnte wieder in meinem Beruf arbeiten, den ich liebe, und ich habe noch viele andere Ideen, was ich machen will. Das heißt nicht, dass ich das herbeisehne. Wenn sie noch 20 Jahre lebt: wunderbar!

So oder so werde ich mich weiter im Verein „Wir pflegen“ engagieren. Das Thema betrifft uns ja alle zweimal: jetzt mit unseren Eltern und später noch einmal, wenn wir selbst alt sind. Ich wünsche mir, dass ich selbstbestimmt alt werden kann, unabhängig vom Geldbeutel. Ich erwarte nicht, dass mein Sohn mich später pflegt, diese Entscheidung muss jeder für sich frei treffen. Aber ich hoffe, dass er dann ein Krisenmanagement für seinen Daddy auf die Beine stellt.

Kontakt: http://stefankrastel.blogspot.com/

Erschienen in Publik-Forum 17/2010

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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