Chronik eines angekündigten Sterbens

Wolfgang Prosinger hat einen todkranken Mann begleitet, der zum assistierten  Selbstmord entschlossen war: die Geschichte eines empathischen Protokolls

Von Ulrike Schnellbach

Wolfgang Prosinger Wolfgang Prosinger – Foto: Susanne Schleyer

Am Ende lädt der Protagonist des Buches den Autor ein, ihn auf seiner letzten Reise zu begleiten: nach Zürich, wo er aufgewachsen ist – und wo er beschlossen hat zu sterben. Der Termin steht schon lange fest, und daran lässt der Protagonist nicht rütteln, nicht von seinen Freunden, nicht vom Autor. Die Einladung in die Schweiz nimmt der Autor an. Wobei für ihn feststeht, dass er beim Sterben selbst nicht zugegen sein wird. „Ich finde, da hat die Öffentlichkeit draußen zu bleiben.“

Der Autor: Wolfgang Prosinger, 60 Jahre alt und Redakteur beim Berliner „Tagesspiegel“. Der Protagonist: 51 Jahre alt, erkrankt an gleich drei furchtbaren Krankheiten – Aids, Parkinson, Darmkrebs. Im Buch heißt er Ulrich Tanner und lebt in Köln, beides entspricht nicht der Wahrheit. Für Prosinger ist es ein Zeichen der Achtung Tanner gegenüber, ihn und seine Freunde nach seinem Tod vor öffentlichen Nachforschungen zu schützen.

Schließlich geht es in dem Buch mit dem lakonischen Titel „Tanner geht“ um ein heftig umstrittenes Thema: Sterbehilfe, genauer den begleiteten Suizid, in Deutschland nach wie vor illegal, in der Schweiz erlaubt und von der Organisation Dignitas auch vielen Deutschen ermöglicht. Das Buch begleitet einen Menschen, der diesen Weg geht. Prosinger protokolliert die Gedanken Tanners in seinen letzten drei Lebensmonaten, ohne sie zu bewerten.

Ein Buch über Krankheit, Tod, Sterbehilfe – ein schweres Thema. Warum haben Sie sich das zugemutet?

Das Thema hat vor vier Jahren begonnen, mich zu interessieren: als meine Mutter starb. Ich fand, dass sie beim Sterben unnötig viel Schmerzen gelitten hat. Das hat mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie es um Menschen bestellt ist, die alt sind, die krank sind, die sterben. Und ich stellte fest, dass alte Menschen oft sehr fremdbestimmt sind. Da gibt es eine ununterbrochene Verletzung von Menschenrechten: in Pflegeheimen, in Krankenhäusern... Das ist für mich plötzlich ein ganz wichtiges Thema geworden: Selbstbestimmung am Ende des Lebens.

Wolfgang Prosinger ist ein kleiner, schmaler, sehr empfindsamer Mann. „Das hältst du nicht aus“, hatten seine Freunde ihn vor dem Projekt gewarnt, „lass die Finger davon.“ Und auch er selbst hatte anfangs heftige Zweifel: Ob er einer so dauerhaften, engen Begegnung mit dem Thema Sterben, dem Thema Selbsttötung gewachsen sein würde. Und auch, ob er jemanden finden würde, der sich ihm so anvertrauen würde. Er fand ihn schließlich im Internet-Forum von Dignitas. Im Dezember 2007 – wenige Tage nachdem Tanner von Dignitas grünes Licht für seinen Sterbewunsch erhalten hatte – verabredeten sie ein erstes Treffen, das etwa eine halbe Stunde dauern sollte.

Ich hatte offen gestanden Angst. Ich hatte Angst, ich sehe einen todkranken, hinfälligen Menschen, der sich nicht auf den Beinen halten kann. Aber da war ein Mann, der rein äußerlich – jenseits des Zitterns und Hinkens und der Schmerzen, die man seinem Gesicht ansah – noch ein sehr stattlicher Mann war. Das war für mich eine große Erleichterung. Es war dann schon nach wenigen Minuten ein Draht zwischen uns beiden da. So redeten wir mehrere Stunden, und am Ende dieses ersten Gesprächs stand bei uns beiden die Absicht: Wir versuchen es.

Wie ging der Annäherungsprozess weiter, wie nahe sind Sie sich gekommen?

Es war ja eine Einbahnstraße: Er hat mich nie nach mir gefragt, außer in dem Punkt, wie es mir bei den Gesprächen ging: Da hat er sich immer auch um mich gekümmert. Aber er hat mich nie gefragt, wie ich lebe, ob ich Kinder habe, ob ich auch schon einen Todesfall in der Familie hatte oder sonst etwas. Es waren immer meine Fragen an ihn. Und trotzdem ist da natürlich eine außerordentliche Nähe entstanden. Mich hat das zum Teil ungeheuerlich berührt, ich habe mit ihm gelitten, und ich habe, als er dann gestorben war, richtig getrauert.

Ulrich Tanners Motive, sich in seiner letzten Lebensphase einem fremden Journalisten zu öffnen, beschreibt Prosinger am Ende des Buches. Es ist das Protokoll des letzten Gesprächs, geführt in einem Züricher Hotelzimmer:

„Es ist schön, dass Sie immer wieder da waren“, beginnt Tanner. Dann schweigt er wieder. „Es ist schön, dass Sie so oft da waren“, beginnt Tanner von Neuem. Am Anfang habe er diese Treffen nur deshalb gemacht, weil er ein bisschen Öffentlichkeitsarbeit für Sterbehilfe machen wollte. Aber nach und nach hätten diese Besuche einen ganz anderen Charakter bekommen. Er habe Zutrauen gefasst, sich verstanden gefühlt, so gut das eben gehe in seiner Lage. Er habe begonnen, sich in den Stunden der Gespräche sein Leben noch einmal ganz neu, ganz genau anzusehen. Das sei ihm nicht leicht gefallen. Immer wieder sei er versucht gewesen, diese Treffen zu beenden, den Kontakt abzubrechen. Es habe ihn über die Maßen angestrengt, so viel zu sprechen. Um die Wahrheit zu sagen, er habe noch nie in seinem 51-jährigen Leben so viel am Stück geredet, er sei ja eigentlich ein introvertierter Mensch. Aber er habe sich weiter besuchen lassen, weil er auf diese Weise ganz neue Fragen an sich gestellt habe. Er wolle sich dafür bedanken, er sei gewiss nicht immer ein einfacher Gesprächspartner gewesen.
Und – haben Sie etwas herausgekriegt in diesen Gesprächen?
„Ja“, sagt Tanner, „etwas Fundamentales…“.

Unzählige Gespräche waren vorausgegangen, Stunden über Stunden. Gespräche in Tanners aufgeräumtem Designer-Wohnzimmer mit dem grellen Bild vom sterbenden Märtyrer Sebastian über dem Sofa; Gespräche gemeinsam mit Tanners Freunden im Restaurant; ein Gespräch bei einem Spaziergang auf dem Friedhof, wo sich Ulrich Tanner seinen Grabplatz aussuchte.

Prosinger beschreibt Tanner als einen sehr strukturierten, gefassten Menschen, der sich nicht gehen ließ. Der fast immer kerzengerade am Esstisch saß, wenn er erzählte. Von seiner schlimmen Kindheit mit einem despotischen Vater. Von seinem Beruf als Architektur-Modellbauer. Von seinem langjährigen Lebensgefährten, von dem er sich getrennt hatte, den er dennoch liebte. Von beglückenden Reisen nach Italien. Von seinen Krankheiten, unerträglichen Schmerzen. Vom Tod der Mutter. Und schließlich von der fundamentalen Erkenntnis, die er dem Autor in dem Züricher Hotelzimmer offenbarte:

„Ich glaube, dass mit dem Tod meiner Mutter mein Sterbeprozess angefangen hat. Das war mir vorher nicht bewusst. Solange sie am Leben war, hatte ich immer das Gefühl, ich müsste die Schlechtigkeit gutmachen, die sie von meinem Vater erlitten hat.“ (…)
Tanner macht jetzt eine ganz große Pause. „Aber als sie tot war…“
Die nächste Pause ist noch länger, noch viel länger.
„Wozu soll ich leben, wenn sie nicht mehr da ist?“
Pause.
„Dann hat mein Leben eigentlich keinen Sinn mehr. Dann ist das Leben irgendwie vorbei.“
Tanner sitzt jetzt nicht mehr aufrecht auf seinem Bett. Er hat die Tanner-Haltung verlassen, ist in sich zusammengesunken, ist still, er schluckt ein paar Mal und sagt dann einen großen Satz: „Ihr Sterben ist verantwortlich für mein Sterben.“
Tanner schaut lange auf den gelben Lichtstreifen an der Wand. Der Besucher auch. Es ist der Moment gekommen, an dem nichts mehr zu sagen ist.

Was bedeutete würdiges Sterben für Ulrich Tanner?

Würdiges Sterben bedeutete für ihn, kein Pflegefall zu sein, nicht an Schläuchen zu hängen, in seinen Exkrementen zu liegen. Sondern zu sterben, solange er noch die Umstände bestimmen konnte. Im Kreise von Angehörigen und bei klarem Bewusstsein. Das war ihm extrem wichtig.
Von Zweifeln Tanners an seinem Todeswunsch kann Wolfgang Prosinger nicht berichten. Seine Freunde hätten versucht, ihn umzustimmen. Auch er selbst fragte Tanner immer wieder, ob es keine andere Lösung gebe, nicht einmal Aufschub. „Aber da wurde er ganz rabiat und sagte, das seien Fragen, die er nicht zugelassen habe. Nein, er habe sich entschieden.“ Ulrich Tanner war ein Mann, der die Kontrolle behalten wollte, der auch sein Sterben nicht aus der Hand geben wollte. Und so starb er wie geplant am 25. Februar 2008 um 13.20 Uhr an dem Gift Natrium-Pentobarital.

Fiel es Tanner schwer, Ihnen seine Lebensgeschichte anzuvertrauen? Er hatte ja keine Kontrolle, was Sie daraus machen würden.

Er hat mir immer wieder gesagt, er sei so froh, dass er bald tot ist. Nur eines ärgere ihn: Er würde das Buch gerne noch lesen.

Trotzdem hat er sich so geöffnet.

Er hat mir offenbar vertraut und das Gefühl bekommen: Dem kann ich etwas erzählen. Obwohl er eigentlich kein extrovertierter Mensch war. Er hat das Buch und seinen Anteil daran als ein Stück Arbeit begriffen, und das war für ihn auch eine Anstrengung, sich damit so auseinanderzusetzen, immer wieder in sich hineinzuhören, in sich herumzustochern, um etwas ans Tageslicht zu befördern – zum Teil war das wie eine Psychoanalyse, mit langen Phasen des Schweigens, des Nachbohrens, des Wiederholens des immer Gleichen. Das war eine richtige Arbeit für ihn, aber offenbar eine, die ihm etwas gegeben hat. Und, Sie werden es kaum glauben, oft haben wir auch viel miteinander gelacht. 

War es für Sie schwierig, so zu insistieren, so indiskret zu sein?

Je länger ich ihn kannte, desto einfacher wurde es. Auch weil Herr Tanner und seine Freunde es mir wirklich leicht gemacht haben mit ihrer Offenheit, ihrer Herzlichkeit. So konnte ich deren selbstverständlichen Umgang mit dem Thema Sterben mit der Zeit übernehmen und Sätze sagen wie: „Wenn Sie dann tot sind…“ – Sätze, wie ich sie anfangs natürlich nie zu sagen gewagt hätte.

Dennoch fiel es Prosinger nicht immer leicht, sich über Wochen und Monate diesem Thema und diesem Leiden auszusetzen. Jedes Mal, wenn er im Zug saß auf dem Weg zu Tanner, berichtet Prosinger, habe er einen großen Widerwillen empfunden und sich gefragt: „Warum tue ich mir das an?“ Wenn er dort war, war es ganz anders. Er ließ sich gefangen nehmen von Tanners Welt und fand sie faszinierend: „Wie lebt ein Mensch seinem Tod entgegen? Eine so extreme Phase des Lebens, das fand ich spannend und berührend.“ Er sei dann immer zurückgereist mit dem Gefühl, etwas sehr Wertvolles erlebt, etwas zutiefst Menschliches erfahren zu haben. „Das war fast beglückend“, sagt Prosinger leise, denn er weiß, dass das Wort in diesem Zusammenhang merkwürdig klingt. „Man lernt viel, wenn man sich so einer Situation aussetzt. In erster Linie lernt man so etwas wie Demut.“

Es könnte der Vorwurf an Sie kommen: Da hat einer das Leiden eines anderen ausgenutzt, um damit Geld zu verdienen.

Ich war immer ganz sicher, dass ich das nicht tue, dass ich da niemanden ausbeute, dass ich eher etwas Schönes mache mit jemandem. Ich hatte auch beim Schreiben das Gefühl, nie voyeuristisch zu sein. Ich habe ganz viel weggelassen, was ich durchaus hätte erzählen können, ich habe gar nicht auf Effekte gesetzt. Wenn jemand mir Voyeurismus vorwerfen würde, dann würde ich ihm raten: Lesen Sie das Buch.

Das Buch zu lesen lohnt sich auch in anderer Hinsicht. Denn Wolfgang Prosinger hat etwas getan, was vor ihm in diesem Umfang noch kein deutscher Journalist getan hat: Er hat ausführlich bei der Sterbehilfeorganisation Dignitas recherchiert. Er hat Sterbehelferinnen nach ihren Motiven gefragt, hat sich die Sterbewohnung angesehen und mit Angehörigen von Menschen gesprochen, die dort gestorben sind. Sein Fazit: „Ich habe wirklich nichts gefunden, wo ich dem Verein massive Vorwürfe machen könnte. Außer der Tatsache, dass er seit 2004 seine Finanzen nicht veröffentlicht hat, das finde ich unerträglich, und das habe ich auch geschrieben. Aber nach meiner Überzeugung betreibt Dignitas kein Geschäft mit dem Tod.“

Zu diesem Urteil kommt Prosinger auch nachdem er sich mehrfach mit dem in der Kritik stehenden Dignitas-Gründer Ludwig Minelli getroffen hat. Er beschreibt Minelli als einen schwierigen, autoritären Menschen, als einen Besserwisser  und Polarisierer, aber auch als liebenswürdigen, gebildeten Unterhalter. „Ein Agitator, ein Mann mit einer unglaublichen Mission, für die er fanatisch kämpft.“ Die Mission: Die Durchsetzung der Menschenrechte, zu denen Minelli das selbstbestimmte Sterben zählt – und hier stimmt Prosinger mit ihm überein.

Sie schreiben ja auch über Hospize und Palliativmedizin – das ist Hilfe zum Leben bis zum Schluss – als Alternative zur Sterbehilfe. Wie stehen Sie dazu?

Ich bin ein großer Anhänger der Palliativmedizin und der Hospizbewegung, und ich finde es eine Schande, wie wenig Geld dafür zur Verfügung steht und wie viele Menschen heute in Deutschland immer noch mit großen Schmerzen sterben müssen, obwohl das nicht nötig wäre. Ich finde, wir müssen diesen Bereich gewaltig ausbauen. Und auch ich selbst stelle mir meinen Tod eigentlich so vor, dass ich mit Hilfe der Palliativmedizin sterbe. Aber wir sollen nicht immer Sterbehilfe und Palliativmedizin als Gegensatz sehen. Für die Menschen, die sich wie Herr Tanner nicht vorstellen können, als Pflegefall zu enden,soll es auch eine Möglichkeit geben, würdig aus dem Leben zu scheiden. Da sehe ich den begleiteten Suizid, wie er in der Schweiz erlaubt ist, als eine vernünftige Möglichkeit an. Das sehen übrigens auch der Deutsche Juristentag und Teile der Ethikkommission so.

Sterbehilfe ist ein äußerst umstrittenes Thema – und alle scheinen eine klare Meinung zu haben. Da fällt es besonders auf, dass Sie selbst sich in dem Buch einer ausdrücklichen Wertung enthalten.

Mein Buch hat nicht als Hauptaufgabe, für eine bestimmte Position im Sterbehilfe-Streit zu plädieren. Sondern mein Buch kümmert sich um einen Betroffenen. Es redet von einems Menschen, der sich so entschieden hat. Ich verkünde keine Grundsätze, ich sage nicht, wie es richtig ist, sondern ich krieche in einen Menschen in einer Extremsituation hinein und versuche, seine Motive zu verstehen. Diese ganzen Plädoyers: Das darf man nicht tun, das ist doch würdelos und so weiter – das sind alles die Argumente der Gesunden. Ich kümmere mich um die Argumente eines Kranken.

Ohne den Anspruch zu verallgemeinern?

Ich zeige einen Einzelfall, aber solche Einzelfälle gibt es natürlich viele. Viele Menschen, die in Not sind.

Infobox Sterbehilfe

Was Dignitas anbietet, ist eigentlich keine Sterbehilfe, sondern die Begleitung beim Selbstmord: Der Sterbewillige muss sich die tödliche Lösung, die ein Arzt ihm verschrieben hat, selbst zuführen. Die Tatherrschaft, so der juristische Begriff, liegt beim Patienten. Das ist in der Schweiz vom Gesetz gedeckt, in Deutschland nicht.
 Aktive Sterbehilfe heißt juristisch „Tötung auf Verlangen“. Dabei verabreicht ein Arzt dem Patienten auf seinen Wunsch eine tödliche Substanz, meist durch eine Spritze. Aktive Sterbehilfe steht in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern unter Strafe, auch in der Schweiz.
Als passive Sterbehilfe wird der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen bezeichnet. Sie ist straffrei.
 Indirekte Sterbhilfe meint die Behandlung eines unheilbar Kranken, die mittelbar zum Tod führt. Zum Beispiel kann es sein, dass eine starke Morphiumgabe nicht nur die Schmerzen lindert, sondern auch die Atmung beeinträchtigt. Indirekte Sterbehilfe ist nicht verboten, jedoch ist die Grenze zur aktiven Sterbehilfe fließend. Die Unterscheidung zwischen beiden findet im Kopf des Arztes statt.

Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod. Buchcover

Wolfgang Prosinger: Tanner geht. Sterbehilfe – Ein Mann plant seinen Tod.
S. Fischer Verlag, September 2008

Erschienen in Publik-Forum, 12. 9. 2008

© Ulrike Schnellbach – Abdruck nur nach Rücksprache mit der Autorin

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